Mein 8. Mai war schon am 19. Juli 1944
Der Bruch
Als am 18. Juli 1944 die italienische Hafenstadt Ancona aufgegeben werden musste und sich meine Einheit, die 8. Kompanie des 993. Infanterie-Regiments, hinter den Esino-Fluss bei Chiaravalle (1) zurückgezogen hatte, sah ich mich nach einer günstigen Fluchtmöglichkeit um. Am folgenden Morgen erschien ich zur Verpflegungsausgabe und konnte feststellen, dass meine nächtliche Abwesenheit nicht aufgefallen war. Daraufhin entschloss ich mich, die Wehrmacht endgültig und für immer zu verlassen.
Motivierung
In einer parteipolitisch nicht gebundenen Familie mit deutlich jüdischer Herkunft aufgewachsen, hörte ich in frühester Kindheit wiederholt über gelungene Emigration von Bekannten ins Ausland. Als dann die Nazis begannen, uns und auch mir das Dasein zu erschweren, sah ich nur in einer Emigration die Lösung. Als ich dann 16 Jahre alt war (2) und der Krieg andauerte, lebte diese Idee wieder in mir auf, denn ich wollte nicht für die Nazis in den Krieg ziehen. Meine beiden Großväter waren im Ersten Weltkrieg – der eine in Galizien gegen die Russen, der andere zunächst gegen die Serben und dann gegen Frankreich. Mein Vater ebenfalls, zunächst am Isonzo gegen die Italiener und dann gegen die Franzosen, wo er verwundet aus dem Krieg ausschied. Alle warnten mich und gaben mir das Buch von Erich Remarque „Im Westen nichts Neues“ zu lesen. Ich hatte mir schon Landkarten von der Schweizer Grenze beschafft und sprach über eine Flucht mit dem ukrainischen Zwangsarbeiter Nikolai Tanklajew aus Charkow, der in meinem Lehrbetrieb arbeitete. Er aber warnte mich, selbst wenn ich es in die Schweiz schaffen würde, bestünde Auslieferungsgefahr, weil ich noch nicht 18 Jahre alt wäre. Die einzige reale Chance wäre eine spätere Desertion aus der Wehrmacht, und möglichst so, dass meinem Elternhaus kein Schaden entstehe. Trotz aller Vorbehalte fand ich mich damit ab.
Ich konnte noch vorzeitig meine Gesellenprüfung als Goldschmied machen, war dann drei Monate beim Reichsarbeitsdienst in Rüdersdorf zum Kalkschippen und wurde schließlich am 27. Januar 1944 nach Berlin-Ruhleben (3) ins Grenadier-Ersatz-Bataillon 309 einberufen. Die Ausbildung im Rahmen der 278. Infanterie-Division erfolgte in Norditalien, und am 18. Mai waren wir bereits an der Front bei Ortano (4). Aber das Vorfeld war vermint und ein Durchkommen kaum möglich. Als am 7. Juni der Rückzug begann, hatte ich eine Absprache mit einem Berliner, der sich aber verquatschte, und wir hatten Mühe, uns herauszureden. Am 17. Juni wurde als Gegner das II. polnische Korps eingesetzt, und es folgte ein hartes Ringen um die Hafenstadt Ancona, die am 18. Juli fiel. In meiner Einheit lief jetzt vieles durcheinander, und für mein Vorhaben bestand eine günstige Situation.
Nach dem morgendlichen Verpflegungsempfang wendete ich mich wieder nordwärts, wo ich bereits im Stall eines Bauern genächtigt hatte. Ein Erdbunker zu Beginn eines freien Feldes nahm mich auf. Nach einiger Zeit lief plötzlich eine LMG-Gruppe (5) mit unserem Zugführer Oberfeldwebel Pilot vorbei. (Jetzt war ich übrigens nicht sicher, ob ich auf diese mir gut bekannte Person im Ernstfall hätte schießen können.) Ich blieb bis zum Dunkeln liegen und suchte dann ein Bauernhaus auf, um dort um Unterstützung zu bitten. Ich erhielt die Zusicherung und auch zu essen, wurde aber gebeten, nicht im Haus zu bleiben, damit es bei Kontrollen durch Partisanen oder die Briten nicht zu Missverständnissen käme. Ich verließ das Haus und suchte den nahegelegenen Friedhof Filonzi auf, überwand die Umgebungsmauer und nächtigte in einer Gräberflucht. Am Morgen des 20. Juli begab ich wieder zum Bauernhaus, wo mir gesagt wurde, dass die Briten verständigt seien und ich warten solle. Bald hielt auch ein Jeep, und zwei britische Soldaten gingen auf mich zu. Ich übergab ihnen mein Gewehr und 60 Schuss Munition. Der Sergeant sagte: „Come on, Jacky!“ Erst zwei Jahre später erhielt ich die Bestätigung, dass mein Verlassen der Wehrmacht keine Belastungen für meine Eltern zur Folge gehabt hatte: Mein Kompanieführer, Oberleutnant Voigt, hatte mich als ‚vermisst‘ gemeldet. (Die 278. Infanterie-Division hatte zu diesem Zeitpunkt neben 1.800 Toten auch 800 Vermisste zu verzeichnen.) (6)
Kriegsgefangen
Nach mehreren Verhören, die immer wieder Bezug auf die Vorgänge um den 20. Juli nahmen, wurde ich als Kriegsgefangener registriert. Vom 30. August 1944 bis zum 30. Mai 1947 war ich in mehreren Lagern in Ägypten stationiert und am 30. Juni 1947 aus dem Quarantänelager Glöwen bei Havelberg ins Zivilleben entlassen.
47 Jahre später
Im September 1991 besuchte ich mit meiner Familie die Stadt Chiaravalle und den Friedhof Filonzi, wo wir die Gräberfluchten besichtigten. Bei der südöstlich von Ancona gelegenen Stadt Loreto konnten wir auch den Friedhof des II. polnischen Korps besuchen. Ich selbst hatte zwar niemanden erschossen, gehörte aber in meinen 32 Kampftagen einer Militärorganisation an, die für den Tod der hier bestatteten Freiheitskämpfer verantwortlich war. Insofern war auch ich nicht frei von Schuld – sie aber verdienen unseren aufrichtigen Respekt!
Günter Gumpel (Text und Fotos)
Dr. Günter Gumpel, Jg. 1926, studierte später Wirtschaftswissenschaften und war vorwiegend in der Chemiefaserindustrie tätig.
Quelle Kartenausschnitt (1. Bild):
© OpenStreetMap-Mitwirkende - verfügbar unter der Open-Database-Lizenz
(1) westlich von Ancona
(2) 1942
(3) Dort ist jetzt die Polizeidirektion. Dahinter liegen am Murellenberg die Schießstände, an denen bis Mitte April 1945 Deserteure erschossen wurden.
(4) südöstlich von Pescara
(5) d.i. Leichtes Maschinengewehr
(6) Harry Hoppe, Die 278. Infanterie-Division in Italien 1944/45, Bad Nauheim (Verl. Hans-Henning Podzun) 1953, S. 28 – Die Meldung von Abgängen als Deserteure führte nur zu Ärger und wurde daher möglichst vermieden.
G. Gumpel - Gastautoren, Geschichte - 24. September 2014 - 00:24
Tags: kriegsende/nationalsozialismus
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