Straßen und Plätze: Wilhelmsaue 114-115 – Victoria-Garten
Nachdem 1899 auf dem Grundstück Wilhelmsaue 114-115 – gleich hinter dem Denkmal für Kaiser Wilhelm I. – der „Victoria-Garten“ (andere Schreibweise „Viktoriagarten“) eröffnet worden war, gab es in Wilmersdorf an der Wende zum 20. Jahrhundert vier große Ausflugslokale. Das neue Lokal mit seinem riesigen Biergarten reichte bis zum See hinab und bot daher auch Kahnfahrten an. Vor allem aber verfügte es über mehrere Säle, darunter einen für 2000 Personen mit einer Bühne für Theater- und Konzertaufführungen.
(mit freundlicher Genehmigung des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf, Archiv)
Im Ersten Weltkrieg war erst einmal mit dem Feiern Schluß, da das Lebensmittelamt hier einzog. Nach der Wiedereröffnung im Jahr 1921 entwickelte sich der Victoria-Garten zu einem wichtigen Veranstaltungsort – auch wenn keine Bootsfahrten mehr stattfinden konnten, da der Wilmersdorfer See inzwischen trockengelegt worden war. Ein Beispiel sind die Kulturveranstaltungen russischer Emigranten. Mehr als eine halbe Million Russen waren infolge der Revolution nach Deutschland gegangen, viele von ihnen nach Berlin. Vom 25.2.1923 – Aufführung eines Märchenspiels, dann Karnevalsfest – bis zum 28.7.1936 – »Tag der russischen Kultur« aller nationalen russischen Organisationen – lassen sich elf Veranstaltungen im Victoria-Garten nachweisen. Selbst eine Schallplattenfirma, die Deutsche Ultraphon, benutzte um 1930 den Tanzsaal des Victoria-Gartens wegen seiner hervorragenden Akustik für Tonaufnahmen.
Politik im Victoria-Garten
Besondere Bedeutung hatte der Victoria-Garten jedoch aufgrund seiner Nutzung durch politische Organisationen. Eine davon war die KPD. Ihre Veranstaltung am 11.2.1931 wurde durch NSDAP-Mitglieder gesprengt, wobei diese auch schossen. „Seitens der Angegriffenen war ein Schwerverletzter zu beklagen.“ (1) Die Rache folgte am 13.3.1931: „Ein kommunistischer Stoßtrupp schoß auf vor dem [Garten-]Lokal stehende Nationalsozialisten; 2 SA.-Männer von Sturm 4 Wilmersdorf schwer verletzt und 1 Hitlermädel leicht verwundet.“ (2)
Für die NSDAP hat der Victoria-Garten „eine besondere Rolle gespielt“ (3). Es fing 1926 an, als J. Goebbels am 17. November hier den „Kampf um Berlin“ einläutete:
Am Bußtag des Jahres 1926 versammelten sich im Viktoriagarten in
Wilmersdorf, in einem Saal, der später oftmals noch Stätte unserer
propagandistischen Triumphe werden sollte, an die sechshundert
Parteigenossen, denen ich die Notwendigkeit einer gesunden finanziellen
Basierung der Berliner Organisation in längerer Rede darlegte. Das
Ergebnis dieser Zusammenkunft war, daß die Parteigenossen sich
verpflichteten, in monatlichen Opferbeiträgen fünfzehnhundert Mark
bereitzustellen, mit denen wir in die Lage versetzt wurden, der Bewegung
einen neuen Sitz zu geben, das notwendigste Verwaltungspersonal zu
engagieren und mit dem Kampf um die Reichshauptstadt zu beginnen. (4)
Neben der NSDAP trafen sich die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) und ihr bewaffneter Arm, der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, häufig dort. Die Zeitung „Der Westen“ berichtete mehrfach darüber: 22.5.1929: Bannerweihe und Verpflichtung des Stahlhelm-Frauenbundes; 3.10.1929: DNVP-Vorfeier zu Hindenburgs Geburtstag; 15.4.1933: Verpflichtung von Mitgliedern des Stahlhelms als Hilfspolizisten. (8)
Rest des Victoria-Gartens: 2016: freie Fahrt dem Auto
Garagen mit ehemaliger Kegelbahn (Foto: MichaelR)
darüber,1958 (mit freundlicher
Genehmigung der Sammlung Dittmer)
Der Zweite Weltkrieg traf den Victoria-Garten noch härter als der Erste. Er wurde nie wieder eröffnet, da die Hauptgebäude zerstört waren. Übrig blieb fast nur ein langgestreckter Bau mit Garagen und der ehemaligen Kegelbahn im ersten Stock; er diente vor allem als Lager und Werkstatt (siehe Foto von 1958). Dieser Zustand blieb bis um 1960, als begonnen wurde, den Durchbruch der Uhlandstraße hin zur Mecklenburgischen Straße in Form einer Schnellstraße zu realisieren.
Diese Skizze (auf der Grundlage der amtlichen Karten im Maßstab 1:5000) zeigt die einschneidenden Veränderungen am Grundstück Wilhelmsaue 114-115 und in der unmittelbaren Umgebung im Laufe von weniger als drei Jahrzehnten: Der Ausgangszustand (hier 1941) mit den Gebäuden des Gartenlokals und dem durchgehenden Mittelstreifen der Wilhelmsaue samt Denkmal Wilhelms I. ist in Schwarz gehalten. Blau zeigt die Veränderungen zu Kriegsende: die stehengebliebenen Gebäudeteile des Victoria-Gartens sowie die Durchschneidung des Mittelstreifens am ehemaligen Standort des Denkmals (1950) – ein kleiner Zwischenschritt auf dem Weg zur autogerechten Stadt. Deren Vollendung vor Ort ist schließlich in Rot eingezeichnet: die im Laufe der 60er Jahre ausgeführte Verlängerung der Uhlandstraße zur Mecklenburgischen Straße, wobei u.a. die vom Krieg verschonten Wohnhäuser zwischen Wilhelmsaue und Berliner Straße (rechts oben) abgerissen wurden (Stand 1970).
MichaelR
(1) Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39, München 1999, S. 591
(2) Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin. Ein Führer durch die Gedenkstätten des Kampfes um die Reichshauptstadt. Im Auftrag der Obersten SA.-Führung bearbeitet von Julius Karl von Engelbrechten und Hans Volz, München (Eher) 1937, S. 219
(3) Wir wandern ..., S. 12f.; der zweite Wilmersdorfer Treffpunkt war die „Tennishalle“ (Brandenburgische Str. 53)
(4) Joseph Goebbels, Kampf um Berlin. Der Anfang, München (Eher) 1934, S. 11
(5) Tageszeitung „Der Westen“, in: Berlin-Wilmersdorf. Die Jahre 1920 bis 1945, hg. v. Udo Christoffel, Berlin (Wilhelm Möller) 1985, S. 311 [Stadtbücherei: B 152 Wilmersdorf]
(6) Wir wandern …, S. 28
(7) „Der Westen“, S. 301
(8) „Der Westen“, S. 172, 178 und 265
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 08. Juni 2016 - 00:02
Tags: ausflugslokal/plätze/stadtgeschichte/straßen/tanzsaal/wilhelmsaue
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Rosa Luxemburg im Victoria-Garten Im letzten Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg, 1913, hatte die europäische Arbeiterbewegung gewaltige Kundgebungen organisiert, die den Willen zum Frieden eindrucksvoll demonstrierten, aber ohne konkrete Folgen blieben. Daher wurde diskutiert, welche Mittel es gegen die Kriegsgefahr denn noch gäbe neben Massenkundgebungen und Antikriegspropaganda. Genannt wurden Verweigerung der Kriegskredite, Generalstreik, Militärstreik und Aufstand – alle jedoch erst im Moment des unmittelbar bevorstehenden Kriegs oder nach Kriegsausbruch anwendbar. So begann eine dritte Massenstreikdebatte innerhalb der SPD.
Am 10.6.1913 fand im Victoria-Garten eine Versammlung zum Massenstreik statt, auf der Rosa Luxemburg dafür eintrat, dieses Mittel auch gegen den drohenden Krieg einzusetzen.
(siehe: Ernst Piper, Rosa Luxemburg – Ein Leben, München (Blessing Verlag) 2018, S. 418-20)