Straßen und Plätze: Transkanalien
Schon immer haben sich passionierte Stadtplanbetrachter gewundert: Warum tritt Charlottenburg (samt dem ihm angeschlossenen Wilmersdorf) in seinem nordöstlichen Winkel an einer Stelle im wahrsten Sinn des Wortes „über seine Ufer“? Ist es doch ansonsten in diesem Bereich säuberlich durch etliche Wassergräben gegen seine Nachbarn abgegrenzt: durch Hohenzollernkanal, Westhafenkanal, Charlottenburger Verbindungskanal und Spree.
In der Heimatwissenschaft gibt es mehrere Hypothesen, wie es zu dieser Zipfelbildung kam. Eine recht bodenständige Hypothese besagt, daß der Charlottenburger Verbindungskanal einst hier eine Schleife machte und bei der späteren Begradigung sein ursprünglicher Verlauf aus Gründen der Tradition als Grenze beibehalten wurde. Von Kritikern wird dieser Hypothese jedoch entgegengehalten, daß sie nicht erkläre, was die Kanalbauer zu diesem Schlenker veranlaßt haben könnte. Dem erwidern die kritisierten Heimatkundler, daß das doch offensichtlich sei und es sich nur um eine dereinst im Scheitelpunkt des Schlenkers gelegene Schenke (Kneipe) gehandelt haben kann, deren Existenz man nur deshalb noch nicht nachweisen konnte, weil das Grundstück zur Zeit überbaut ist.
Eine zweite Hypothese sieht hier die Spuren eines historischen Brückenkopfes, der um 1920 entstand, als sich die Charlottenburger Bürger verzweifelt gegen die Eingemeindung nach Cölln-Berlin wehrten und zu einem Gegenangriff ansetzten, der freilich über diesen Brückenkopf nie hinauskam.
Die dritte Hypothese, die heutzutage in den maßgeblichen Kreisen des Bezirks gern als die wahrscheinlichste angesehen wird, sieht in dem Zipfel einen ersten Hinweis darauf, daß die dynamische City West an ihrer Peripherie bereits aus allen Nähten zu platzen beginnt.
Und schließlich, im ausdrücklichen Widerspruch dazu, vertreten einige wenige Heimatkundler den Standpunkt, es handle sich schlicht um eine Laune der Natur (wahlweise auch Gottes). Die Anhänger dieser Hypothese werden unter ihren Kollegen und in Teilen der Hauptstadtpresse daher „Cityleugner“ genannt.
Natürlich herrscht auch über die Benennung dieses Zipfels Uneinigkeit. Während es die Mehrheit – darunter auch das politische Charlottenburg (samt dem ihm angeschlossenen Wilmersdorf) – vorzieht, ihm zum jetzigen Zeitpunkt keinen Namen zu geben (dem Vernehmen nach hat man sich in der Zählgemeinschaft noch nicht einigen können), schlagen andere vor, ihn vorläufig erst einmal ganz pragmatisch „Transkanalien“ zu nennen, wofür sich auch der Berichterstatter aus ebenfalls pragmatischen Erwägungen entschieden hat.
Über die Zukunft von Transkanalien braucht man sich keine Sorgen zu machen. Es ist – ebenso wie das nahegelegene Gebiet des ehemaligen Gaswerkes Charlottenburg – flächendeckend (und ganz ohne historische Rückstände) mit den heute üblichen Gewerbebauten bebaut. Daher ist für Freunde anspruchsvoller Architektur hier nichts zu erleben.
Als ästhetischer Ausgleich liegt aber nur zwei Ecken weiter die Classic Remise (früher Meilenwerk) im ehemaligen Straßenbahndepot (Sickingenstraße Ecke Wiebestraße) mit Industriearchitektur von 1899 und einer Vielzahl historischer und zeitgenössischer Fahrzeuge.
MichaelR
MichaelR - Gastautoren, Satire - 04. Juni 2017 - 00:04
Tags: plätze/stadtgeschichte/stadtplanung/straßen
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Hat da jemand in seinem Eifer nicht was übersehen? Pressemitteilung vom 29.05.2006- Stadtrat Klaus-Dieter Gröhler wollte 2006 tatsächlich Geschichts vergessen diesen Zipfel an Mitte abtreten, bloss um das ehemalige Stück Zoo zu kommen, um das Riesenrad "in die Zuständigkeit des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf zu bringen". Hat aber Beides nicht geklappt.