Leseempfehlung (20): Widerstandskämpferin Libertas Schulze-Boysen
Jedes Jahr wird am 20. Juli republikweit der Offiziere gedacht, die 1944 ein Attentat auf A. Hitler unternahmen, um die sich schon längst abzeichnende Niederlage im Krieg zu verhindern.
Ganz anders, wenn es um das weitverzweigte Netz von Männern und Frauen geht, die den Krieg selbst verhindern wollten und dazu unter anderem ihre detaillierten Kenntnisse über Kriegspläne an die Sowjetunion und die USA weitergaben. Die Rede ist von der Schulze-Boysen/Hartnack-Gruppe, die die Nationalsozialisten „Rote Kapelle“ nannten. Lange wurden sie als Verräter bezeichnet, und einen Gedenktag haben sie bis heute nicht.
Unter den elf, die als erste von über 50 Männern und Frauen am 22. Dezember 1942 in Plötzensee durch Erhängen oder Köpfen ermordet wurden, waren neben den Namensgebern Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen auch dessen Ehefrau Libertas Schulze-Boysen (1913-1942). Über sie brach die Nachwelt, die sich selbst nie unter Lebensgefahr ihrer Regierung widersetzt hat, in besonderem Maße den Stab, hatte sie doch während ihrer Haft im Herbst 1942 einer Spitzelin gutgläubig die Namen von Gruppenmitgliedern genannt, um diese zu warnen, und war sie doch nicht „mannhaft“ mit ihren Schergen zum Köpfen mitgegangen, weil sie leben wollte. So ist es nicht erstaunlich, daß die Literatur, die an sie erinnert, selbst 75 Jahre nach ihrem Tod an einer einzigen Hand abgezählt werden kann.
Allein schon daher ist es erfreulich, daß Frank Wecker sich mit ihr in seinem neu erschienenen Buch Der Tod der Freiheit. Der letzte Tag im Leben von Libertas Schulze-Boysen beschäftigt hat.
Um einen lebendigen Eindruck von ihr und ihrem Umfeld zu schaffen, greift Frank Wecker auf das Mittel der dokumentarischen Erzählung zurück, verbindet also belegte Kenntnisse über sie, die er mithilfe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand recherchierte und im Anhang überblickartig vorlegt, mit seiner eigenen Erzählung. Als Rahmen dafür wählt er ihren letzten Lebenstag vom Aufwachen bis zur Hinrichtung. Frank Wecker läßt sie – inspiriert durch die Tatsache, daß sie als Pressereferentin, Kritikerin und Theoretikerin beruflich mit dem Filmgeschäft zu tun hatte – in diesen letzten Stunden die wesentlichen Stationen ihres Lebens in Form eines von ihr selbst gedrehten Filmes darstellen. Sie greift dabei auf verschiedene Filmtechniken wie Nahaufnahme, Überblendung, Kommentar aus dem Off, harte Schnitte usw. zurück und wird dabei immer wieder unterbrochen durch ihr unmittelbares Erleben in der Todeszelle.
Frank Wecker zeigt auf diese Weise eine junge Frau, die nicht zur Widerstandskämpferin geboren schien, deren Leben vielmehr gekennzeichnet war durch eine sorglose Jugend auf einem Gut, durch den Besuch eines Schweizer Internats, durch gehobene sportliche Aktivitäten wie Reiten, Tennis und Segeln, durch ein lockeres Liebesleben und überhaupt durch den Wunsch, das Leben zu genießen. Mit 21 Jahren lernte sie im Jahr 1934 ihren späteren Mann kennen, und ihr Leben bekam eine völlig neue Wendung, die sie zur Widerstandskämpferin werden ließ. Beigetragen hatten dazu die Erfahrungen ihres Mannes, seine immer präziseren Kenntnisse über den unausweichlich bevorstehenden Krieg und schließlich ihre eigenen Einblicke in das Morden in der Sowjetunion. Es entsteht das Bild einer Frau, die hin und her gerissen ist zwischen dem Willen zu leben und dem Abscheu vor dem, was die Nationalsozialisten aus dem Leben gemacht haben; an der Zweifel über ihr riskantes Tun nagten, die aber, statt zu verzweifeln, weiterkämpfte, sei es bei der Herstellung von Kontakten zwischen Widerstandskämpfern, bei der Beschaffung von Informationen für Funksprüche und Flugblätter oder bei der Hilfe für Verfolgte; die, trotz all ihrer persönlichen Schwächen und angesichts des so grenzenlos erscheinenden Machtapparats der Nationalsozialisten, Sand in dessen Getriebe zu streuen versuchte.
Frank Wecker, Der Tod der Freiheit. Der letzte Tag im Leben von Libertas Schulze-Boysen. Eine dokumentarische Erzählung, 2018 edition winterwork, ISBN 978-3-96014-435-9, 19,90 Euro
Hinweis: In der Schloßkapelle von Gut Lieberberg (Löwenberg, Ortsteil Lieberberg, Tel. 033094 700-0) befindet sich eine von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand errichtete Sonderausstellung zur Erinnerung an Libertas Schulze-Boysen. Der Begleittext ist hier zu lesen.
MichaelR
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 07. Mai 2018 - 00:24
Tags: buch/buchvorstellung/gedenken/nationalsozialismus/widerstand
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