Stachelschweine werden frecher
Vergnügen im Untergeschoß des Europa-CentersDie Veränderungen werden schon beim Eintritt in den Zuschauerraum der Stachelschweine deutlich: Bis auf Gustav Heinemann, Heinrich Lübke und Walter Scheel sind die Karikaturen der einstigen Bundespräsidenten abgehängt worden.
Tatsächlich erscheinen die Stachelschweine mit ihrem neuen Programm „Menschen. Ämter. Katastrophen.“ nicht nur wie ausgewechselt, sie sind es auch im wahrsten Sinne des Wortes: angefangen von der künstlerischen Leitung über die Kabarettisten bis zur musikalischen Begleitung.
Das neue Ensemble mit Jenny Bins, Anika Lehmann und Henning Mayer spielt unter der Leitung von Michael Frowin. Das Ensemble ist jung genug, um frischen Wind in das Kellergeschoß des Europa-Centers zu bringen aber auch schon hinreichend erfahren, um an die große Tradition des ehrwürdigen Hauses anknüpfen zu können.
Die Frage beim politischen Kabarett ist immer, wie weh tut es jemanden, wenn gesellschaftliche Zustände aufs Korn genommen werden: Wird über die Frisur der Kanzleriun gelacht oder geht es um deren Politik. Es gab Zeiten, da rückte wegen politischer Satire die Polizei aus, da wurde versucht, die Stimme des Kabaretts mit Prozessen zum Schweigen zu bringen, da wurde ein Shitstorm im Internet organisiert oder einzelne Künstler direkt mit der Androhung von Gewalt eingeschüchtert. In Berlin liegt das schon längere Zeit zurück, weil auch die Leidensfähigkeit der Politiker gewachsen ist, solange ihrer Pensionen und Bezüge nicht angetastet werden. Die Stachelschweine setzen die Grenze bei der staatlichen Vertuschung von Hilfestellungen bei der Mordserie der NSU und der Unterlassung von Hilfeleistungen bei der Seenotrettung. Das rätselhafte Zeugensterben bei der NSU-Aufklärung, die anwachsende Zahl von Häftlingsverbrennungen im staatlichen Gewahrsam werden ebensowenig thematisiert wie die Verschleuderung von Milliarden Euros aus dem gesellschaftlichen Steueraufkommen bei Großbauprojekten, die Kriegsvorbereitungen hinter der Nebelwand von Scheindebatten und der mit den neuen Ermächtigunggesetzen für die Polizei verbundene Demokratieabbau.
Dennoch kann den Stachelschweinen bescheinigt werden, daß sie etwas frecher geworden sind, aber doch nicht so, daß das Vergnügen an der Abendunterhaltung eingschränkt würde. Es bleibt lustig, wenn über die Bürokratisierung der Sprache gewitzelt wird, so daß die Wortschöpfungen auch nach dem besten Deutschkurs nicht verständlicher werden, die Steuererklärung zu einer erotischen Nummer, begleitet vom Song „Fever“, wird oder die Bauvorschriften in ihrer sprachlichen Unsinnigkeit auf die Schippe genommen werden. Zuweilen blickt dabei auch das wirtschaftliche Interesse an diesen bürokratischen Ungetümen durch. Der Krümmungsgrad der Gurken wurde von den mächtigen Discounterketten gefordert, die Unverständlichkeit der Amtsformulare hilft Kosten sparen, denn viele gesetzliche staatliche Leistungen werden nur gewährt, wenn diese Formulare korrekt ausgefüllt werden, und ein Wörterbuch für Beamtendeutsch gibt es nicht. So überträgt der brave Bürger gewissenhaft von den Banken übermittelte Zahlen, deren Sinn ihm unverständlich ist, in Spalten und Zeilen der Steuererklärung, die ihm ein Rätsel sind.
Frank Wecker
FW - Gastautoren, Kunst und Kultur - 23. Oktober 2018 - 22:37
Tags: kabarett/theater
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