Flimmern in der Herzkammer
Uraufführung an der Deutschen Oper„Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider – Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…vorbei, verweht, nie wieder.“
Mit diesen Versen fing Kurt Tucholsky 1930 die Atmosphäre der Großstadt ein: Anonym, flüchtig, unverbindlich. Jeder Moment scheint vielfältige Möglichkeiten zu eröffnen, doch wird eine ergriffen, dann setzt der Rhythmus, die Schlagader des Großstadtleben, aus. So treibt der Rhythmus der Großstadt das Individuum immer weiter durch seinen Dschungel, wie der Rhythmus des Gedichts den Rezipienten.
Die israelische Komponistin Chaya Czernowin hält diesen fremdbestimmten Rhythmus an. Sie hält jenen Wimpernschlag der Begegnung fest. Sie lotet ihn aus. Sie baut um ihn herum ein ganzes Opernwerk mit schier überbordenden Klängen. Es ist von solcher Fülle, daß ein Orchester im Graben allein dazu nicht ausreicht. Chaya Czernowin stellt ihm ein 16stimmiges Vokalensemble zur Seite, das zur Uraufführung ihres Werkes „Heart Chamber“ in der Deutschen Oper in der Bismarckstraße 35 auf den Rängen plaziert wird. Seitlich der Bühnenzugänge befindet sich das Ensemble Nickel, das mittels Elektronik bislang „unerhörte“ Klänge produziert. Die Skala der Töne reicht vom Nichtklang, der Stille, über kaum hörbar gehauchte Laute, den aus voller Inbrunst geschmetterten Operngesang, den Schrei bis zum Ausbruch voller Klangmassen. Dieser ungeheure musikalische Aufwand erfolgt „nur“, um das Befinden zweier Personen, deren Schicksal dieser eine Augenaufschlag miteinander verknüpft, in seiner Tiefe zum Ausdruck zu bringen.
Foto: Wecker
Terry Wey sowie Patrizia Ciofi mit ihrer inneren Stimme Noa Frenkel.
Foto: Wecker
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Das sich Finden, das aneinander und auch auch voneinander Verlieren, ist die banale Geschichte von Beziehungen, für den einzelnen, dem dies widerfährt, ist solch Erleben existentiell. Letzteres interessiert die Komponistin in aller Tiefe und Verästelung. Deshalb bringt sie auch mit ihren Protagonisten „Sie“ und „Er“ gleich zwei weitere Figuren auf die Bühne, die jeweils „innere Stimme“ der Akteure. Mal stehen sie zueinander im Einklang mal im Gegensatz. Bisweilen werden auf der Bühne vier Geschichten gleichzeitig erzählt, wozu manchmal auch noch die überdimensionale filmische Großaufnahme tritt.
Die Geschichte des Paares entwickelt Regisseur Claus Guth, der bereits zum dritten Male eine Oper von Chaya Czernowin inszeniert. Er inszenierte bereits die Uraufführungen von „Zaide/Adama“ zu den Salzburger Festspielen 2006 und ihr erstes musikdramatisches Werk, die Kammeroper „Pnima…ins Innere“ zur Münchener Biennale 2000. Die musikalische Leitung hatte wie jetzt auch in Berlin jeweils Johannes Kalitzke.
„Heart Chamber“ hat zwar Text, aber daraus geht im Gegensatz zum klassischen Libretto kein Handlungsstrang hervor. Eher ist der Text selbst musikalische Komposition. Es ist Wortmusik mit eigener Tonlage und Rhythmus. Auch bei Tucholsky wird die Sprache des Gedichts zu Rhythmus und Klang. Die Erschließung des Sinns vollzieht sich bei ihm jedoch über die Bedeutungen der Worte, die bei Chaya Czernowin weniger eine Rolle spielen, deren Funktion übernimmt die Musik. Bei Chaya Czernowin wird jede hörbare Regung zu Musik. Die Altistin Noa Frenkel, die ebenfalls schon bei „Pnima“, „Infinite Now“ und „Zaide/Adama“ mit ihr zusammengearbeitet hat, sagt dazu: „Sie (Chaya Czernowin) hat einen mikroskopischen Blick auf Musik, sie erforscht etwa in winzigen Schritten den Übergang vom Sprechen zum Singen. Auch das Ein- und Ausatmen begreift sie als Töne.“ An der Deutschen Oper verkörpert Noa Frenkel die innere Stimme der „Sie“, dargestellt von Patrizia Ciofi; der männliche Part wird von Dietrich Henschel gespielt, seine innere Stimme ist Terry Wey. Solistische Aufgaben von dramaturgischem Gewicht haben Frauke Aulbert (Stimme) und am Kontrabaß Uli Fusseneger.
auf mehreren Ebenen: Die inneren Stimmen Noa Frenkel und Terry Wey.
Foto: Wecker
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Die Oper ist in den USA, in Harvard, entstanden, wo Chaya Czernowin an der Universität Komposition unterrichtete. „In diesem Stück durchdringt der Klang den Raum von allen Seiten und durchwandert ihn, ganz ähnlich wie bei mir zu Hause“, berichtet die Künstlerin. „Wenn es ganz still ist nachts, dringen Geräusche mit Leichtigkeit herein, wiederum in Schichten. Zuerst sind da die verschiedenen Zikadenarten in der Nähe, dann die Vögel. Weiter entfernt fahren Autos … Einmal saß ich während eines Sturms im Auto und filmte, wie die Blätter in Spiralen durch die Luft tanzten, logisch und magisch zugleich. … Ich stellte sie mir als Klänge vor, mit Rhythmus und Tonhöhe und all ihren anderen Eigenschaften.“
Die Uraufführungen ihrer Opern „Pnima…ins Innere“ und „Inifinite Now“ wurden von der Kritik als „Uraufführungen des Jahres“ ausgezeichnet.
Die nächsten Vorstellungen sind am 21., 26.und 30. November. Karten können unter Telefon 343 84 343 und im Internet unter www.deutscheoperberlin.de bestellt werden.
Frank Wecker
FW - Gastautoren, Kunst und Kultur - 18. November 2019 - 00:24
Tags: gesang/konzert/oper
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