Uhlandstraße 1945 – ein dritter Augenzeugenbericht
Viereinhalb Jahre nach Enthüllung der Gedenktafel für einen ermordeten 17jährigen Deserteur an der Kreuzung von Uhland- und Berliner Straße in Wilmersdorf im April 2015 ist ein dritter* Augenzeugenbericht bekanntgeworden. Er stammt von den Geschwistern B.B. (geb. November 1937), und W.W. (geb. September 1936), die im April 1945 somit sieben bzw. acht Jahre alt waren. Sie wohnten damals im Vorderhaus von Uhlandstraße 97, also gegenüber von Haus 103, vor dem der 17jährige erhängt wurde. Damals war die Uhlandstraße (ebenso wie die Berliner Straße) nur halb so breit wie heute, so daß der Gehweg vor Nr. 103 auf dem heutigen Mittelstreifen lag.**
Das Interview fand am 1.2.2016 in Hamburg statt. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Transkript der Tonaufnahme. (Aus den Antworten der Interviewten wurden für die Buchausgabe*** Zusammenfassungen gebildet.)
B.B.: Und einmal hat ein Aufgehängter auf der Straße gelegen. Das weiß ich auch noch.
W.W.: Vor dem Hause wurde einer gehenkt, ja.
Interviewerin: Warum wurde der gehenkt?
W.W.: Ach was weiß ich. Neunzehnhundertfünfundvierzig während der Kämpfe. Vielleicht hatte er sich verdrücken wollen oder so etwas und war geschnappt worden.
I.: War es ein Deutscher oder?
W.W.: Ein Deutscher.
B.B.: Ein Deutscher, ja.
W.W.: Und die anderen, die es taten, waren auch Deutsche und haben ihn dann also gehenkt. Ich weiß noch, dass meine Mutter, als sie begriff, was da geschehen würde, ihre Kinder packte, mindestens mich, wahrscheinlich dich aber auch?
B.B.: Also ich erinnere mich nicht, dass…
W.W.: Und mit uns in den Keller rannte.
B.B.: Ich erinnere mich nur, dass er da lag, also dass er aufgehängt wurde, weiß ich nicht mehr.
I: Das heißt, er wurde wieder abgeknüpft.
W.W.: Er wurde abgeschnitten, ja.
B.B.: Und ich erinnere mich, dass er da lag und dass der Mund offen war.
[…]
I: Wie ging diese Situation los? Sie haben gehört, dass da geschrien wurde, da gab es irgendwie so ein Getümmel.
W.W.: In Zusammenhang mit dem…
I: Mit dem, der erhängt wurde.
W.W.: Nein, der wurde gebracht.
I: Der wurde gebracht.
W.W.: Der wurde gebracht, den hatten sie irgendwo, vielleicht in den Ruinen oder so aufgestöbert, wo er sich weigerte, weiter zu kämpfen, und hatten ihn im Polizeigriff und brachten ihn und der Kommandant stieß irgendein Wort aus, und bis dahin hatte unsere Mutter das noch alles gesehen, und dann sah sie, was sie machen wollten.
I.: An einem Baum oder wie?
W.W.: Nein, über den Laternenpfahl. Der hatte doch diesen Querbalken, diese Querstreben, darüber.
B.B.: Also dass er hängt, das sehe ich nicht mehr vor Augen, ich sehe nur, dass er da liegt.
W.W.: Nein, ich auch nicht. Ich erinnere mich auch nur noch, dass er da liegt.
I: Okay. Und er lag da dann auch noch eine Weile anscheinend?
W.W.: Oh ja.
I: Tagelang?
B.B.: Tagelang.
MichaelR
* Die bisher bekannten Berichte sind von Helmut Panse und Ilse V.
** Siehe rechts unten in Abb. 13.
*** Frederike Helwig (Fotos), Anne Waak (Text): Kriegskinder – 45 Zeitzeugen, 45 Geschichten, Berlin (Hatje Cantz Verlag) 2017, 104 S.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 23. November 2019 - 23:46
Tags: gedenken/gedenktafel/kriegsende/nationalsozialismus
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