Lesetipp V: Charlottenburg von unten
Berlin in den späten 1990er Jahren. Die Mauer ist vor fast zehn Jahren gefallen, die Stadt ächzt unter dem Zusammenleimen der beiden so verschiedenen Hälften. Im Zentrum bleibt kein Stein auf dem anderen, am Potsdamer Platz entsteht eine neue Stadt, geplant am Reißbrett, bespielt von einigen finanzstarken Weltkonzernen, die widerspruchslos die kommende Erste Adresse Berlins für sich reklamieren. Zahllose Kräne schimmern im grellen Flutlicht, inmitten der Brache tonnenschwere Blöcke durch den Nachthimmel schwenkend; aus der Ferne gemahnen sie an gigantische Störche beim Nestbau, surreal und emsig. Im alten Westberlin hingegen hält sich hartnäckig die Jahrzehnte alte Subventionsseligkeit. Unweit des Klausenerplatzes im fernen Charlottenburg wird eines Morgens im Herbst die übel zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden, im Treppenhaus eines zur Entmietung frei gegebenen Hauses. Dies ist der Einstieg des Romans „Berliner Blut“ von Ullrich Wegerich, erschienen 2005 bei Königshausen & Neumann.
Der Autor schickt ein veritables Trio grotèsque auf den steinigen Weg, den Fall zu lösen. Die Ermittlungen leitet ein verlebter Kommissar Anfang 50 mit einem manifesten Alkoholproblem, dessen Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, seine Laune nicht gerade hebt. Ihm zur Seite steht ein unpünktlicher Assistent mit Cowboystiefeln und Pferdeschwanz, der Verdächtige verprügelt und Zeuginnen verführt. Das Team komplettiert eine junge Polizistin mit italienischen Wurzeln, die mit hohen Hacken, schwarzen Strumpfhosen und kurzem Rock denkbar ungünstig für die Arbeit gekleidet ist. Die Untersuchung beginnt im privaten Umfeld der Toten, die mit kunstvoll geschreinerten Möbeln ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Unter Verdacht geraten ihr ehemaliger Liebhaber, ein undurchsichtiger Nachbar, ihr aktueller Freund und der mit Immobilien spekulierende Vermieter. Als ihre Geschäftspartnerin auf bestialische Weise ermordet wird, überschlagen sich die Ereignisse. Am Ende kommt es zu einer Geiselname, die zur Verhaftung des Täters führt. Eifersucht als Motiv, ergänzt um Besitzansprüche und enttäuschte Liebe.
Der Autor, 1955 geboren, lebt seit 1986 im Kiez, er hat Sozialwissenschaften studiert und schreibt Westernstories, „Berliner Blut“ ist sein erster Krimi. Sein Debut entfaltet ein tristes Panorama einer uferlosen, feindseligen Stadt voller gestresster Menschen. Der Text ist arg dialoglastig, die Handlung verläuft etwas zäh, die Zeichnung der Figuren entbehrt einer überzeugenden Psychologie. Die Revolution des Krimigenres, im 20. Jahrhundert durch Raymond Chandler, Patricia Highsmith und Friedrich Dürrenmatt voran getrieben, hinterlässt keine sichtbaren Spuren im Roman. Männer sind Schweine, Frauen sind Engel, so einfach ist das bei Wegerich. Täter und Opfer leben in glasklar voneinander getrennten Welten, der Spannungsbogen der klassischen Whodunnit-Geschichte hält nicht über die volle Distanz, mehrere logische Brüche lassen die korrigierende Hand eines Lektorats vermissen. Und zwischendurch sondert der müde Kommissar Sätze ab vom Format eines „Etwas besseres als den Tod finden wir überall!“
„Berliner Blut“ ist Krimiware von der Stange, gut geeignet für die U-Bahn. Die Geschichte wird gewürzt mit einer voyeuristischen Prise Fetisch und SM, weitere Zutaten sind sexueller Missbrauch, Subventionsbetrug und Homosexualität, ohne dass dadurch der fade Geschmack des Textes veredelt würde. Ansonsten wird oft und laut gebrüllt, das Arsenal der Schimpfworte ist beachtlich. Gezeichnet wird ein Charlottenburg von unten, ein Milieu von Alternativen, Träumern und Verlierern, auf der vergeblichen Suche nach Licht und Geborgenheit zwischen Gardes-du-Corps-, Danckelmann- und Sophie-Charlotten-Straße. Seinen spärlichen Reiz gewinnt das Buch als Beschreibung eines Quartiers der kleinen Leute im Schatten des Schlosses Charlottenburg, das zum Spielball der mächtigen Interessen von Immobilienhaien wird. Der Autor verfügt über subtile Kenntnisse der jüngeren Geschichte des Viertels und lädt die Leserin zu einem Kiezspaziergang der besonderen Art ein. All zuviel bleibt bei der Lektüre aber nicht hängen, schon gar keine Sympathie mit einer der handelnden Personen. Schnell gelesen, rasch vergessen. Hoch verdünntes Blut.
Andrea Bronstering - Gastautoren, Kiez, Kunst und Kultur - 17. Januar 2009 - 00:29
Tags: klausenerplatz/ullrich_wegerich
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