Straßen und Plätze: Spessartstraße
In Erinnerung an H. W.
Die Spessartstraße ist Teil des sog. „Rheingauviertels“, wo sich nicht wenige Straßen und Plätze befinden, deren Namensgeber tatsächlich weitab vom Rheingau oder sogar vom Rhein liegen – darunter auch der Spessart, ein Mittelgebirge am Unterlauf des Mains. Dieses Viertel mit dem Rüdesheimer Platz als Zentrum wird umschrieben von den folgenden Straßen und Plätzen: Heidelberger Platz – Hanauer Straße – Laubacher Straße – Südwest-Corso – Breitenbachplatz – Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße – Wiesbadener Straße – Mecklenburgische Straße.
Ausdehnung Wilmersdorfs nach Südwesten mittels einer neuen U-Bahnlinie
Seit Ende des Deutsch-Französischen Krieges (1871) fand eine rasche wirtschaftliche Entwicklung im neuentstandenen Deutschen Reich statt. Auf dem Gebiet der Landgemeinde Wilmersdorf trugen dazu die Landkäufe der Ringbahngesellschaft bei, die im November 1877 die südwestliche Teilstrecke mit den Bahnhöfen Wilmersdorf-Friedenau (jetzt Bundesplatz) und Schmargendorf (jetzt Heidelberger Platz) in Betrieb nahm, womit der Ring geschlossen war.
Dies war der Anstoß für Aktivitäten von Bodenspekulanten (Terraingesellschaften) inner- und außerhalb des Eisenbahnrings, denn immer mehr Berliner konnten es sich leisten, in der Stadt zu arbeiten und außerhalb zu wohnen. Da der Wilmersdorfer Gemeindevertretung daran lag, diese steuerkräftigen mittelständischen Bürger zur Ansiedlung auf ihrem Gebiet zu gewinnen, erließ sie 1895 einen Bebauungsplan, der die Neubautätigkeit sehr förderte (1). Natürlich waren schnelle Verkehrsverbindungen nach Berlin dabei unabdingbar.
Daher forderte die Gemeindevertretung 1899 eine Modernisierung der bestehenden Dampf- und Pferdebahnlinien. Dies geschah in den Jahren 1900 und 1901 durch deren Elektrifizierung; allerdings ließ sich der Wunsch nach einem U-Bahnanschluß noch nicht umsetzen. Nachdem Wilmersdorf 1906 Stadt geworden war, begann die Stadtverordnetenversammlung im folgenden Jahr, mit der Hochbahngesellschaft zu verhandeln, was 1908 zu einem Vertrag führte. Demnach sollte die Neubaustrecke am Nollendorfplatz beginnen und über den Wittenbergplatz und Nürnberger Platz (2) zum Fehrbelliner Platz führen – der damals als zukünftiges Stadtzentrum von Wilmersdorf gesehen wurde – und eventuell später weiter bis zum Rastatter Platz (jetzt Breitenbachplatz).
Zu dieser Zeit war die Gegend südlich des Fehrbelliner Platzes so gut wie unbebaut, so daß dieser Plan von Terraingesellschaften als Aufforderung verstanden wurde, die Ländereien längs der zukünftigen U-Bahnlinie zu kaufen, zu erschließen und enorme Gewinne damit zu machen. Da die Stadt Wilmersdorf ab Nürnberger Platz (der Grenze zu Charlottenburg) für den Bau selbst aufkommen mußte, boten die Terraingesellschaften der Stadt einen Baukostenzuschuß von 2 Mio. Reichsmark für die neue U-Bahnlinie, die folglich gleich bis zum Rastatter Platz gebaut wurde (3). Im Sommer 1910 begannen die Bauarbeiten, die Eröffnung der Strecke fand am 12. Oktober 1913 statt.
„Gartenterrassenstadt Rheinisches Viertel“
Es ist offensichtlich, daß die Bebauung des Bereichs südwestlich des Dorfkerns außerhalb des Eisenbahnrings und die neue U-Bahnlinie sich gegenseitig bedingten: ohne die U-Bahn nicht diese Bebauung, und ohne die Bebauung keine U-Bahn.
Unter den dort aktiven Bodengesellschaften war auch die Terraingesellschaft Berlin-Südwesten, die unter der Leitung von Georg Haberland den Kernbereich des Rheingauviertels gestaltete, wobei man sich von folgenden Überlegungen leiten ließ:
Es sollten Wohnungen für den Mittelstand entstehen, also für Menschen, die sich nicht eine Villa im Westend leisten konnten, die aber andererseits den Mietskasernen innerhalb des Eisenbahnrings entfliehen wollten, einem nach den Vorgaben des Hobrechtplans von 1866 dicht bebauten Bereich, der um die Jahrhundertwende wegen seines Mangels als Licht und Luft zunehmend als gesundheitsgefährdend kritisiert wurde. Die Umsetzung dieser beiden Vorgaben führte zur Entstehung der „Gartenstadt Wilmersdorf“, in der verschiedene Stilelemente des englischen Landhausbaus in abwechslungsreicher Weise auf viergeschossige Mietshäuser übertragen wurden: Erker, Loggien, Sprossenfenster, Stuckdekor, Blendfachwerk an Giebeln, vielgestaltige hohe Dächer. Das besondere Merkmal dieser Siedlung ist, daß – als Ersatz für das nach der damaligen Bauordnung eigentlich vorgeschriebene Grün zwischen den einzelnen Häusern – vor die geschlossene Blockrandbebauung bis zu 10 Meter tiefe, zum Gebäude hin leicht ansteigende Grasflächen, sogenannte Gartenterrassen, gelegt wurden.
Während die Grundrisse der einzelnen Gebäude von unterschiedlichen Architekten entworfen wurden, war für alle Fassaden der Gartenstadt allein der Architekt Paul Jatzow (1875-1940) zuständig, um ein architektonisch und farblich einheitliches Erscheinungsbild zu gewährleisten.
So entstand vor allem in den Jahren 1910 bis 1914 (hier der Zustand im Jahr 1913 – im Hintergrund die Einmündung der Spessartstraße) die Gartenterrassensiedlung am und um den Rüdesheimer Platz (etwa begrenzt durch Spessartstraße – Laubacher Straße – Wiesbadener Straße – Gerolsheimer Straße). Sie wird als einer der bedeutsamsten Beiträge zum Wohnungsbau vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet des späteren Groß-Berlin angesehen und wurde Vorbild für ähnliche Siedlungen in der Zwischenkriegszeit.
Die konkrete Festlegung der Straßenverläufe in dem Viertel läßt sich anhand von historischen Stadtplänen gut nachvollziehen: Der Plan „Berlin und Umgebung“ von 1899 (F. A. Brockhaus, geographisch-artistische Anstalt, Leipzig) zeigt ein rein schematisches schachbrettartiges Gitternetz, ausgerichtet nach den vier Himmelsrichtungen und ohne daß Plätze markiert sind. Dagegen kommt der „Pharus Plan Berlin“ von 1906 der tatsächlichen Ausgestaltung schon deutlich näher: Dort liegt der quadratische Rüdesheimer Platz im Schnittpunkt zweier Diagonalen und wird im Norden von der Homburger Straße und im Süden von der Wiesbadener Straße begrenzt. Diese beiden Straßen sind auch heutzutage die Endpunkte eines verbreiterten Abschnitts der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Rüdesheimer Straße, unter dessen Mittelstreifen der gleichnamige U-Bahnhof liegt, während der Platz selbst sich jetzt in Rechtecksform von hier nach Osten erstreckt. Die zwei Diagonalen blieben im Prinzip erhalten; ihr nordöstliche Arm wurde am 19. August 1909 Spessartstraße benannt.
Die Spessartstraße ist eine weniger als 500 Meter lange reine Wohnstraße. Während ihr gekapptes nördliches Ende noch von der verkehrsreichen Laubacher Straße tangiert wird, ist sie mit ihrem südlichen Ende ganz eingetaucht in die eigene kleine Welt des „Rheinischen Viertels“ mit dem von Geschäften gesäumten Abschnitt der Rüdesheimer Straße am U-Bahnhof und dem Rüdesheimer Platz, dessen Gestaltung im Laufe seiner 102jährigen Geschichte mehrfach geändert wurde.
Dieser Text wird fortgesetzt mit dem Bericht einer früheren Bewohnerin der Spessartstraße über ihre Kindheit in der Nachkriegszeit dort.
MichaelR – Fotos: Suse
(1) Zu den baulichen Auswirkungen auf den ursprünglichen Dorfkern siehe Abschnitt „Vom Dorf zur Großstadt“.
(2) Diese Station wurde im Juli 1959 anläßlich des Baus der Linie Osloer Straße – Rathaus Steglitz aufgelöst und einerseits ersetzt durch den Umsteigebahnhof Spichernstraße (eröffnet August 1961), andererseits durch den Bahnhof Augsburger Straße.
(3) Tatsächlich wurde die Linie sogar bis zum Thielplatz fortgeführt, da sich auch die Domäne Dahlem mit einem Baukostenzuschuß beteiligte.
Materialien:
Hans-Ulrich Kamke/Sigrid Stöckel, Wilmersdorf (= Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke, Bd. 11), Berlin (Colloquium) 1989 [Stadtbücherei: H 260 Kamk]
Rheingau-Viertel, Rüdesheimer Platz: Berlindabei - Rüdesheimer Platz & Umgebung
Rüdi-Net: Rüdesheimer Platz - Geschichte in Stichworten
Rüdi-Net: Rüdesheimer Platz - Von der Planung bis heute
Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf: Lexikon - Rheinisches Viertel
Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf: Kiezspaziergang am 12.8.2006
Luise Berlin (Edition Luisenstadt): Rheinisches Viertel Wilmersdorf
Nonvaleurs - Historische Wertpapiere: Terraingesellschaft Berlin-Südwesten
Kulturdenkmäler:
Wikipedia: Liste der Kulturdenkmale in Berlin-Wilmersdorf
Luise Berlin (Edition Luisenstadt): Spessartstraße
U-Bahn:
Wikipedia: U-Bahnlinie 3
Die Berliner Untergrundbahn: U3 Die Wilmersdorfer Untergrundbahn
Stadtpläne:
Berliner Stadtplanarchiv: 1894
Berliner Stadtplanarchiv: 1899
Berliner Stadtplanarchiv: 1906
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 12. April 2013 - 00:24
Tags: plätze/spessartstraße/stadtgeschichte/straßen
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