Dem Gedenken an die Zwangsarbeiter wird bald schwindelig werden!
Erster Dreh Eine Information des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors ermöglichte es mir im Januar 2015, einen ersten Bericht über Zwangsarbeiterlager in unserem Bezirk zu schreiben. Das Bezirksamt griff dieses Thema auf und beschloß schon am 18. Februar, die Gedenktafelkommission zu bitten, sich des Themas anzunehmen
„und ggf. einen Vorschlag zu entwickeln, wie an den historischen Orten ein Gedenken ermöglicht werden kann“. (Schreiben Bezirksamt an GTK vom 20. Februar)
Zweiter Dreh Die Gedenktafelkommission (GTK) beschäftigte sich in ihrer letzten nichtöffentlichen Sitzung Anfang Juni damit. Das einzige öffentlich bekannte Ergebnis war eine Anfrage bei mir, ob das Lager in Wilhelmsaue 40 wirklich ein Zwangsarbeiterlager gewesen sei; man habe Zweifel.
Dritter Dreh Ich bejahte in einer Stellungnahme die Frage aus folgenden Gründen (Details zu Anfrage und Stellungnahme hier):
- Es gab dort mindestens seit November 1942 ein Lager des Bezirksamtes Wilmersdorf für Zivilarbeiter.
- Da deren Nationalität im Dokument nicht vermerkt ist, ging ich von der – aus Sicht der Zweifelnden – „günstigsten“ Situation aus und nahm Holländer an, also Mitglieder eines „nordischen Volkes“; jedoch waren selbst sie bereits seit Sommer 1942 nur noch als Zwangsarbeiter im Reich tätig.
- Freie Arztwahl war für kleinere Zwangsarbeiterlager ganz üblich.
Die Stellungnahme lag den einzelnen Mitgliedern der Kommission rechtzeitig umweltschonend-elektronisch vor.
Vierter Dreh Auf der ersten öffentlichen Sitzung der GTK am 24. September wurde das Thema erneut verhandelt. Nutzbare Materialien waren neben meiner Stellungnahme zwei weitere, der Kommission vorgelegte Beiträge, nämlich
- eine von dem renommierten Fachmann für Zwangsarbeit Dr. Cord Pagenstecher für diese Sitzung zusammengestellte Liste von 38 in Wilhelmsaue 40 gemeldeten Männern aus Polen und Jugoslawien (1), also aus Ländern, deren Bürger von Beginn des deutschen Einmarsches an (1939 bzw. 1941) zur Zwangsarbeit ins Reich gebracht wurden (für Polen siehe hier); und
- eine kurze Stellungnahme der Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, Dr. Christine Glauning, vom 11. September, in der es heißt: „Es ist richtig, dass Westeuropäer mehr Freiheiten hatten als Osteuropäer und sich zum Teil auch freiwillig gemeldet hatten. Aber: Die Bedingungen auch für Westeuropäer haben sich mit zunehmendem Kriegsverlauf verschärft… Aus ursprünglich freiwilligen Arbeitsverhältnissen wurden so Zwangsarbeiterverhältnisse.“
In aller Klarheit zeigt das Protokoll die Choreographie der folgenden Diskussion auf: Nachdem ein geneigter Gast die Richtung angegeben hatte, brauchten die drei maßgeblichen Kommissionsmitglieder – die kulturpolitischen Sprecherinnen von SPD, CDU und Grüner Partei – sich dem nur noch anzuschließen: noch nicht überzeugt, vieles noch unklar, mehr recherchieren. Das Protokoll erwähnt nicht die beiden zusätzlichen, zu Protokoll (!) gegebenen Beiträge – irgendwie konsistent, denn auch auf sie ging kein Kommissionsmitglied inhaltlich ein. Es gab keine einzige Nachfrage (und als ich mich tags drauf bei den Mitgliedern nochmals schriftlich erkundigte, ob noch Klärungsbedarf bestünde, erhielt ich keine einzige Antwort).
Zum Schluß wurde auf SPD-Wunsch die Angelegenheit an den Kulturausschuß weitergereicht.
Fünfter Dreh Dem Kulturausschuß (7. Oktober) lag nämlich der SPD-Antrag „An die ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern“ vom 21. Mai vor (DS 1251/4). Man beschloß, der BVV die Annahme zu empfehlen, indem nunmehr umgekehrt
„das Bezirksamt aufgefordert [wird] darzulegen, wie dieser Zwangsarbeiterlager in unserem Bezirk im Stadtbild (Gedenktafeln, Stelen u. a.) gedacht werden kann“ (zweite von drei Aufforderungen).
Voilà, nachdem dieser Antrag am 15. Oktober von der BVV verabschiedet worden ist, ist die Angelegenheit nach neun Monaten und fünf Drehs und unter Einbeziehung von vier Gremien und drei bis vier Einzelpersonen wieder zurück zum Ausgangspunkt gelangt. Das Karussell hat sich einmal gedreht, der Kreis hat sich geschlossen – und einige Parteipolitiker haben es mit viel Aufwand an Zeit und Menschen geschafft, zwar an keinen einzigen Zwangsarbeiter zu erinnern, aber dafür in einer Fehde untereinander den Spieß umzudrehen. (2)
Wie kann dieser Kreislauf durchbrochen werden?
Eine offenbar ernstgemeinte (und anderswo wohl gängige) Lösungsmöglichkeit wurde von der Vertreterin der CDU-Fraktion in die Diskussion der GTK eingebracht, als sie sinngemäß sagte: „Wenn Herr R. das Geld für eine Gedenktafel (in der Wilhelmsaue) sammelt, dann bräuchten wir hier nicht weiter darüber zu diskutieren.“
Wie schön, daß es gestandene Politikerinnen gibt, die das Prinzip „Wer zahlt, bestimmt“ auch mal nach unten hin anwenden wollen!
Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit: Zwar ist es richtig, daß es insgesamt noch viel zum Thema Zwangsarbeit im Bezirk zu recherchieren gibt (was im übrigen auch jedem Mitgliedern der GTK völlig unbenommen bleibt). Jedoch ist für das Bezirksamtslager in Wilhelmsaue 40 (3) bereits jetzt belegt: Erstens war dort ein Lager, und zweitens war es ein Zwangsarbeiterlager. Wer daran Zweifel äußert, es aber unterläßt, sie konkret zu benennen, sondern stattdessen ganz allgemein nach „mehr recherchieren“ ruft, erweckt den Eindruck, nur verzögern (oder gar verhindern?) zu wollen.
Nach über 70 Jahren ist es Zeit für das Bezirksamt, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Damit könnte es auch Vorbild für andere Betreiber von Zwangsarbeitslagern sein – wie z.B. Siemens (9 Lager mit 2227 Insassen im November 1942 in Charlottenburg).
MichaelR
(1) Die Namen entstammen einer Liste, die das 151. Polizeirevier im Zusammenhang mit der Alliierten Suchaktion gem. Befehl 163 zur Jahreswende 1945/46 zusammenstellte. Diese und weitere Listen befinden sich in zwei Ordnern, beschriftet mit „Ausländer, die in Berlin polizeilich gemeldet waren", im Landesarchiv Berlin.
(2) In diesem Politikbereich sind neun Monate so viel wie ein Tag: Gretchen Dutschke, die ebenfalls auf der GTK-Sitzung anwesend war, muß nun schon fast zwei Jahre auf die Genehmigung für eine Gedenktafel am Ort des Anschlags auf ihren Mann Rudi auf dem Kurfürstendamm warten (DS 795/4 vom 3.12.2013).
(3) Für das Lager des Bezirksamtes Charlottenburg in der Oranienstraße 13/15 (jetzt Nithackstraße 8-10) müßte der Sachverhalt wohl noch weiter recherchiert werden. (Literatur: Laurenz Demps, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterlager in der faschistischen Reichshauptstadt Berlin 1939-1945 (1986), S. 88, lfd. Nr. 134: „Lager für ausländische Arbeiter der Stadt Berlin“, für „Bezirksamt Charlottenburg“)
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 19. Oktober 2015 - 00:02
Tags: gedenken/nationalsozialismus/stadtgeschichte/zwangsarbeit
zwei Kommentare
Nr. 2, jn, 03.11.2015 - 09:18 “Das Protokoll ist kurz nach dem 21.10. von der Website verschwunden.” warum wohl ? es gab massive beschwerden gegen diese “interessengeleitete” verlaufsdarstellung |
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Ergänzung zum "4. Dreh" Das Protokoll ist kurz nach dem 21.10. von der Website verschwunden. Es lautete damals folgendermaßen:
Herr Dr. Roeder erläutert sein Papier, was er im Vorfeld den Mitgliedern der Gedenktafelkommission zur Verfügung gestellt hat. Es wurde seitens der Gedenktafelkommission gewünscht, dass Herr Dr. Roeder nachweist, dass es sich in der Wilhelmsaue 40 wirklich um ein Zwangarbeiterlager handelt.
Herr Knobloch [Kulturwissenschaftler und Museologe] kann die Existenz eines Zwangsarbeiterlagers nicht befürworten. Es gibt keine eindeutigen Beweise. Er erklärt, es wäre eine gründliche Recherche nötig und würde es begrüßen, wenn es eine gute Würdigung aller Zwangsarbeiterlager des Bezirks geben würde.
Frau Pöthe [Grüne Partei] verweist darauf, dass die Quellen dürftig sind. Es bedarf einem Forschungsauftrag, den die Gedenktafelkommission nicht leisten kann. Sie wird das u. a. in der Fraktion besprechen.
Frau Dr. Timper [SPD] erläutert, dass es keine ausreichende Aufklärung gibt und bittet, den TOP zu vertagen. Die DS-Nr. 1251/4 – Antrag der SPD-Fraktion, betr. An die ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Charlottenburg-Wilmersdorf erinnern – wurde in den Ausschuss für Weiterbildung und Kultur überwiesen. Sie bittet um schnelle Beratung im Ausschuss.
Frau Halten-Bartels [CDU] schließt sich dem an und vertritt die Idee des Antrags. Weiterhin erklärt sie, dass die Recherche seitens der Gedenktafelkommission nicht geleistet werden kann.
Nach weiterer Beratung wird der TOP vertagt und wieder aufgerufen, wenn es neue Erkenntnisse gibt.
Es wird gebeten, dass Papiere seitens der Initiatoren zu Gedenktafeln den Mitgliedern von den Initiatoren in Papierform vorgelegt werden.