Wie der Findling in der Wilhelmsaue vom Schlageter- zum Dorfaue-Gedenkstein wurde
Am östlichen Ende des Mittelstreifens steht ein gewaltiger Menhir, der eine Bronzetafel mit folgender Inschrift trägt:
Du befindest Dich hier auf der ehemaligen Dorfaue im ältesten Teil unseres Bezirkes. Um 1750 gaben Bauerngehöfte, umschlossen von Feldern, Wiesen und Seen, Alt-Wilmersdorf das Gepräge.
Hat sich wirklich jemand 1956 – elf Jahre nach Kriegsende inmitten der zerstörten Stadt – die Mühe gemacht, diesen 3,80 m hohen, 2 m breiten, 50 cm dicken und mehrere Tonnen schweren Findling aus Bayern herzuschaffen, um mitzuteilen, daß sich an dieser Stelle vor fast einem Viertel Jahrtausend eine ländliche Idylle befand?
In der Tat wurde der Stein nicht aus diesem Grund hier aufgestellt und auch nicht zu diesem Zeitpunkt; vielmehr stand er damals schon 23 Jahre dort. Und er war schon einmal enthüllt worden; in der eingemeißelten Vertiefung befand sich seinerzeit eine Bronzetafel mit diesem Text:
Schlageter zum Gedächtnis, 26. Mai 1933, NSDAP
Leider trägt der Findling keinen Hinweis auf seinen ursprünglichen Zweck. Aber anhand von Zeitdokumenten läßt sich folgende Geschichte des Gedenksteins rekonstruieren:
Schlageter-Denkmal
Der Findling – in der nationalsozialistischen Ideologie als besonders deutsch angesehen – wurde am 11.5.1933 aufgestellt und am 26.5., dem zehnten Todestag Schlageters, abends enthüllt. An der Einweihung nahmen 17 NSDAP-Ortsgruppen, Abordnungen von SA, SS, Stahlhelm und vielen Kriegervereinen, der Pfarrer der Auenkirche, der Bezirksbürgermeister (DNVP) samt seinen Bezirksamtskollegen, fast alle Bezirksverordneten und viele Bürger teil, insgesamt weit über 10.000, vielleicht sogar 15.000 Menschen. Gesungen wurde „Wir treten zum Beten‟, „Ich hatt’ einen Kameraden‟ und „Der Gott, der Eisen wachsen ließ‟. In den von Lautsprechern übertragenen Weihereden des Pfarrers und zweier NSDAP-Redner wurde der Wunsch geäußert, daß „Schlageters Geist ewig in den Herzen aller Deutschen leben‟ und „das Wirken des Geistes Schlageters zur Schaffung einer wahren Volksgemeinschaft beitragen‟ möge. Zur Feierlichkeit des Vorganges trugen Glockengeläut der Auenkirche, „reiche Beflaggung‟ sowie zahlreiche Kerzen in den Fenstern bei. Abschluß dieser größten Schlageter-Feier in Berlin war der von 600 Musikern angeführte Fackelzug zum Adolf-Hitler-Platz (jetzt Theodor-Heuss-Platz (1)), wo „der gesamte Zug an der Wohnstätte des Propaganda-Ministers vorbeimarschierte‟.
links: Vorderseite mit Schoelerschlößchen im Hintergrund - rechts: Rückseite mit Blick zur Auenkirche
Leo Schlageters (* 1894) Lebenslauf, soweit er für diesen „Geist‟ von Bedeutung ist: Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg (wie Millionen andere junge Männer auf der ganzen Welt); nach Kriegsende Freikorpsmitglied im Baltikum und in Oberschlesien; unterstützte den Kapp-Putsch (März 1920) in Breslau und bekämpfte den dagegen gerichteten Widerstand (Ruhrkampf); November 1922 Gründungsmitglied der Großdeutschen Arbeiterpartei, einer Tarnorganisation der zu dieser Zeit in Preußen verbotenen NSDAP; Teilnahme am breiten Widerstand gegen die französische und belgische Besetzung des Ruhrgebiets ab Januar 1923 mit Sprengstoffanschlägen im Rahmen eines Freikorps; wegen Spionage und Sabotage von der französischen Besatzung zum Tode verurteilt; lehnte ein Gnadengesuch ab; hingerichtet am 26.5.1923.
Nach seinem Tod erhob sich reichsweit von allen politischen Seiten Protest; auf der politischen Rechten begann ein Schlageter-Kult, der ab 1926 zunächst zu vereinzelten, ab Machtantritt der NSDAP 1933 flächendeckend zu etwa 100 Gedenkstätten und unzähligen Namenspatenschaften führte. Die Propaganda der NSDAP machte Schlageter posthum zum Nationalhelden und Märtyrer (2) und stellte ihn besonders der Hitler-Jugend als leuchtendes Vorbild hin: als jemanden, der im Krieg sein Leben für Deutschland opferte und so zum „ersten Soldaten des Dritten Reichs‟ wurde. Der Schlageter-Kult stand am Anfang des Dritten Reichs und sollte eine positive Einstellung zum Krieg vermitteln.
Anti-Schlageter
Am Ende des Dritten Reichs und des Krieges standen millionenfach Tod und Leid. Symbol dafür und damit Gegenstück zu Schlageter ist ein unbekannter 17jähriger, der in den letzten Tagen des April 1945 fast in Sichtweite des Schlageter-Steins, an der Ecke von Berliner und Uhlandstraße, erhängt wurde. Kam der durch den Krieg sozial entwurzelte Schlageter dahin, gern Soldat zu sein, so wollte dieser 17jährige kein Soldat sein und nicht sterben, und es ist gut vorstellbar, daß er – im Gegensatz zu Schlageter – um sein Leben gefleht hat. Bis in die 1950er Jahre (3) legten Anwohner am Todestag an der Kreuzung Blumen nieder und erinnerten mit einem beschrifteten Pappkarton an diesen Mord. Erst 70 Jahre nach seinem Tod gelang es, für „ihn und alle anderen, die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten und deshalb ermordet wurden" (Text der Gedenktafel), unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit ein dauerhaftes Gedenken zu schaffen.
Vom Schlageter-Denkmal zum „Findling mit Dorfaue-Gedenktafel‟ (Bezirksamt)
Nach dem Ende von Weltkrieg und Drittem Reich gab es keinen Bedarf an Kriegsverherrlichung. Man brauchte daher eine neue Idee für die Weiterverwendung des riesigen Steins, und man fand sie in „Alt-Wilmersdorf‟. Die auf der neuen Gedenktafel angedeutete Idylle – „Dorfaue ... umschlossen von Feldern, Wiesen und Seen‟ – hatte es allerdings für die Landbevölkerung nie gegeben, höchstens für wohlhabende Städter aus Berlin, bei denen es seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Mode (4) kam, sich einen Sommersitz auf dem Lande zuzulegen. (Dies könnte übrigens „um 1750‟ erklären, denn just zu der Zeit entstand im Rahmen dieser Mode gleich hinter dem Gedenkstein das „Schoelerschlößchen‟, heute das älteste Wohnhaus in Wilmersdorf.)
Und weiter: Das Ereignis, das man bei der Einweihung durch Bezirksbürgermeister Wilhelm Dumstrey (CDU) am 20.8.1956 als historischen Aufhänger nutzte, um an ein Dorf zu erinnern, war ausgerechnet der 50. Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte an Wilmersdorf (die es schon 14 Jahre später wieder verlor, als es am 1.10.1920 als IX. Bezirk in Groß-Berlin aufging; und 1906 war Wilmersdorf schon lange kein Dorf mehr, sondern hatte bereits über 70.000 Einwohner).
Insgesamt paßt das alles offensichtlich nicht zusammen, wirkt konstruiert und sieht nach einer Notlösung aus, um Schlageter loszuwerden. Und dennoch haben die Gedenktafel von 1933 und die von 1956 deutliche Parallelen, insofern als sie beide einen grundlegenden Mangel an Wahrheit erkennen lassen und ausgesprochen ideologisch sind: Die Tafel von 1933 täuschte vor, daß Soldatsein und Kriegführen höchst erstrebenswert seien; die Tafel von 1956 versetzt, nach Ende dieses Krieges, den Betrachter in die ‚heile Welt’ einer ‚guten alten Zeit’ (was sie aber überhaupt nicht war) und vertuscht die Tatsache, daß der Krieg mit seinen allenthalben spürbaren Folgen (5) auch an dieser Stelle propagandistisch mit vorbereitet wurde. So wie man 1933 hier nicht an das Grauen eines zukünftigen Krieges denken sollte, so soll man 1956 hier nicht an die Ursachen des kürzlich geendeten Grauens denken.
Hinweistafel
Denkmäler sind politische Symbole. Das „Dorfaue‟-Denkmal ist solch ein Symbol. Es steht für das Verdrängen der NS-Geschichte in den ersten Jahrzehnten nach dem Dritten Reich. Konkret handelt es sich darum, daß mit der Andeutung einer längst vergangenen, scheinbar friedlichen Zeit vertuscht wird, daß der ursprüngliche Zweck dieses Denkmals das genaue Gegenteil war, nämlich die Deutschen auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Die richtige Antwort auf das Schlageter-Denkmal und den von ihm propagierten Krieg wäre daher eigentlich ein Antikriegsdenkmal gewesen.
In den Jahrzehnten nach 1945 galt für viele Deutsche unumstößlich der Satz „Nie wieder Krieg!‟ Eine Bewohnerin eines Altersheim drückte das vor einiger Zeit einmal so aus: „Wir hätten nicht einmal ein Messer in die Hand genommen.‟ Das hat sich seit 1999, seit dem höchst umstrittenen deutschen Einsatz im „Kosovokrieg‟ grundlegend geändert. Wir haben also allen Grund, uns über diese Frage Gedanken zu machen und ‚aus der Geschichte zu lernen’. Darüber hinaus trägt eine Hinweistafel dazu bei, den Anwohnern die historischen Wurzeln ihrer Umgebung bekanntzumachen. Diese Tafel sollte folgende Informationen enthalten:
Stein aufgestellt Mai 1933 – zur Erinnerung an Leo Schlageter, in der NS-Propaganda „erster Soldat des Dritten Reiches‟ – zwecks Vorbereitung der Deutschen auf den Zweiten Weltkrieg – 1956 Umwidmung zum heutigen „Dorfaue‟-Stein – als Teil der Verdrängung der NS-Geschichte und ihrer Kriegspropaganda in den Jahrzehnten danach
Darf man das?
In der Antwort auf eine Einwohnerfrage zur Schaffung einer Hinweistafel (13. Frage/BVV vom 15.9.2016) hieß es: „Damit wird an den sogenannten ‚Schlageterkult’ erinnert. … Es ist nicht das Anliegen des Bezirksamtes, diesen Kult zu unterstützten.‟
Nun liegt es in der Natur der Sache, daß jede Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus an diesen „erinnert‟ und nach dieser Logik folglich unterbleiben müßte. Und apropos Schlageterkult: Wenn es ihn tatsächlich in irgendeiner relevanten Form noch gäbe, konnte er schon seit dem Jahr 2000 auf der Internetseite des Bezirksamts von diesem Gedenkstein erfahren. (6) Allerdings hatte das Bezirksamt in den Jahren 1933ff. diesen Kult tatsächlich einmal unterstützt, indem „unter dem Glockengeläut der Auenkirche Bürgermeister Dr. Franke das Schlageter-Denkmal für das Bezirksamt Wilmersdorf übernahm‟ (Wilmersdorfer Anzeiger, 27.5.1933). Das Bezirksamt hat hier also eine historische Verpflichtung und Verantwortung.
MichaelR
Quellen und weitere Materialien
– Der Westen, 26.5.1933, in: Berlin-Wilmersdorf, Die Jahre 1920 bis 1945, hg. v. Udo Christoffel, Berlin (Wilhelm Möller), 1985, S. 268 [Bezirksbücherei: B 152 Wilmersdorf]
– Wilmersdorfer Anzeiger, 27.5.1933, S. 1 [Archiv der Auenkirche: AGA Nr. 1179]
– Denk mal gegen den Krieg: Politisches Denkmal im Herzen Othmarschens
– Fuhrmeister, Christian, Erratische Steine: Die (politische) Bedeutung von Findlingen in den letzten 200 Jahren, in: Männer vom Morgenstern, Sonderdruck aus Jahrbuch 91 von 2012
– Gedenktafeln in Berlin, gemeinsame Internetpräsentation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e.V.: Dorfaue Wilmersdorf
– Janssen, Karl-Heinz, „Der erste Soldat des Dritten Reiches‟, in: Die Zeit 49/1999
– Kannowski, Stephan, Die paramilitärische Erziehung durch die Hitlerjugend (HJ), Diplomarbeit FHS Frankfurt am Main, FB Sozialpädagogik, 2004, S. 68
– Metzger, Karl-Heinz u.a., Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz. Berlin-Wilmersdorf 1933-1945, hg. v. Bezirksamt Wilmersdorf, Berlin (Ed. Hentrich) 1992, S. 324 [Bezirksbücherei: B 152 Wilmersdorf]
– Wikipedia, Artikel zu Albert Leo Schlageter, Schlageter-Denkmäler und -Namenspatenschaften
1 Knapp zwei Monat vor dieser stimmungsvollen Feier, nämlich am 23.3.1933, hatte der später gern „Papa Heuss‟ genannte erste Bundespräsident (damals Deutsche Staatspartei, nach 1945 FDP) im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, das als rechtliche Hauptgrundlage für die Herrschaft Hitlers und der NSDAP diente. So gesehen, hat der Namenswechsel des Platzes einen gewissen Hintersinn.
2 Ein nach Schlageter von der NS-Propaganda geschaffener weiterer Märtyrer war Horst Wessel; siehe zum Vergleich ihrer jeweiligen Zielgruppen: Lasse Wichert, Personale Mythen des Nationalsozialismus, Wilhelm Fink Verlag 2018: 6.3. Vergleichendes Fazit, S. 565
3 Das Ende der privaten Ehrung dieses NS-Opfers und die staatlich geförderte Verdrängung der NS-Geschichte mittels der Umwidmung des Schlageter-Steins fallen zeitlich zusammen. Offensichtlich hatte letztere vorerst die Oberhand gewonnen.
4 Wie im französischen Königshaus, wo sich Marie Antoinette ab 1783 sogar ein ganzes Dörfchen hinten im Park von Versailles erbauen ließ, um dort Landleben zu spielen.
5 Dagegen hat das aus demselben Jahr stammende Wandbild am Haus 9 der Mehlitzstraße, knapp 100 m vom Gedenkstein entfernt, immerhin einen konkreten Gegenwartsbezug, denn es zeigt das Grundstück auch als Ort des Wiederaufbaus.
6 In Bad Ditzenbach zum Beispiel wurde im Jahr 1986 das Schlageter-Denkmal von der Denkmalbehörde in die Liste der historischen Kulturdenkmäler als Beispiel aus der NS-Zeit aufgenommen – ohne daß es danach zu Schlageter-Kulthandlungen kam.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 17. Januar 2019 - 00:04
Tags: denkmal/gedenken/wilhelmsaue
vier Kommentare
Nr. 2, Frank Wecker, 20.01.2019 - 18:18 Sehr interessant, gut daß der Hintergrund dieses Steins beleuchtet wird, der Hinweis auf die Dorfgründung mutet tatsächlich seltsam an. |
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Zwangsarbeiterlager, Schlageter Stein und jetzt noch ein weiteres “Kriminalstück” aus dem biederen Ort der “Wilmersdorfer Witwen”:
Die “Wilmersdorfer Bürgerwehr” war maßgeblich an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beteiligt.Von der Mannheimerstr. 43 (heute 27)wurden von dort die untergetauchten,sozialistischen Politiker von dieser gruppe – im Auftrag des Kommandanten der Kavalier Garde Schüzen Division ins Hotel Eden am Zoo verschleppt.War die “SchlageterNSDAP Truppe” aus der “Wilmersdorfer Bürgerwehr” entstanden? Hier wären weitere Forschungen notwendig