Die ehemaligen Zwangsarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf warten noch immer auf eine Erinnerung
74 Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg und 4 ½ Jahre seit Einleitung einer Initiative
Am Dienstag, den 2. Juli findet um 19 Uhr im Auditorium der Topographie des Terrors (1) eine Veranstaltung statt zum Thema Debatten um historische Orte der NS-Zwangsarbeit in Berlin. Der folgende Beitrag faßt zu diesem Anlaß die bisherige Debatte über einen solchen Ort der NS-Zwangsarbeit zusammen (eine detailliertere Darstellung finden Sie in den Texten dieser Liste).
Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes Wilmersdorf in der Wilhelmsaue 40?
Seit Januar 2015 sind den zuständigen bezirklichen Gremien – Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, Gedenktafelkommission und Kulturausschuß – die Ergebnisse einer Recherche bekannt, die belegen, daß sich in der ersten Hälfte der 1940er Jahre in der Wilhelmsaue 40 das Zwangsarbeitslager des Bezirksamtes Wilmersdorf befand (2). Grundlage für diese Einschätzung sind zwei Dokumente (1. Kapitel ). Ein Jahr später (3) hatte sich die Mehrheit der bezirklichen Gremien im großen und ganzen auf bestimmte Bedenken gegen die Rechercheergebnisse festgelegt (2. Kapitel). Mit Bezug auf die zwei Dokumente und diese Bedenken gaben darauf im Frühjahr 2017 drei Historiker Stellungnahmen ab, die in Auszügen wiedergegeben sind (3. Kapitel). Im 4. Kapitel wird der heutige Stand dargestellt.
Es sind dies die vom Gesundheitsamt Wilmersdorf aufgestellte Liste der Zwangsarbeiterlager im Bezirk (30.11.1942) (4), in deren drittletzter Zeile sich das Bezirksamt selbst („Bez.Verw. Wilmsdf.“) als Betreiber eines Lagers in der Wilhelmsaue 40 bezeichnet, und die Anweisung des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters vom 30.4.1944 (5), in der er festlegt: „Ich behalte mir den Arbeitseinsatz der Ausländer selbst vor.“
2. Bedenken
a) Stefan Knobloch, Kulturwissenschaftler
1. Die Hausnummer 40 gibt es in der Wilhelmsaue gar nicht, sondern laut Flurkarte nur das Grundstück mit der Nummer 39-41. – 2. Im Adreßbuch gab es keinen Eintrag eines Lagers unter dieser Adresse. – 3. Das Lager ist nicht in der Liste der Lager des „Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt“ verzeichnet. – 4. Da die Bezirksämter nicht eigenständig über den Arbeitseinsatz ziviler Zwangsarbeiter bestimmen durften, kann dort kein Lager des Bezirksamtes gewesen sein. (vorgetragen bei verschiedenen Gelegenheiten 2015-17)
b) Reinhard Naumann, Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf
Sein nationalsozialistischer Amtsvorgänger sei „nur der verlängerte Arm der Gauleitung‟ gewesen. (auf der Sitzung der Gedenktafelkommission vom 16.2.2016)
c) Heike Schmitt-Schmelz, Bezirksstadträtin für Bildung
Vielleicht sei die Hausnummer 40 ja ein Tipfehler, und es müsse eigentlich „4c‟ heißen? (bei einem Gesprächstermin mit dem Verf. am 13.2.2017)
3. Stellungnahmen von Historikern
a) Prof. Dr. Reinhard Rürup
„Ich habe die von Ihnen geschickten Unterlagen gelesen und bin von den von Ihnen erzielten Recherche-Ergebnissen durchaus beeindruckt. Die Tatsache, dass es an diesem Ort ein Zwangsarbeiterlager des Bezirks Wilmersdorf gab, ist damit eindeutig gesichert.‟ (Email vom 4.3.2017 an Verf.)
b) Prof. Dr.Wolfgang Benz
„Dass ein Dokument vorliegt, in dem das Gesundheitsamt Berlin-Wilmersdorf einschlägige Lager unter dem Datum 30.11.1942 aufführt, darunter eines mit der Adresse Wilhelmsaue 40 und mit dem Vermerk „Bez. Verw. Wilmsdf.“ (in der Rubrik der Träger), stellt nicht nur die Existenz klar, sondern auch das Faktum, dass der Bezirk aktiv involviert war. Es war nicht üblich, die Unterkünfte der Zwangsarbeiter für das allgemeine Publikum zu kennzeichnen. Die Argumentation, es habe das fragliche Zwangsarbeiterlager an der Wilhelmsaue nicht existiert, weil die Hausnummer 40 nicht amtlich geführt worden sei oder weil es die Bezeichnung „städtisches Ausländerlager für Arbeitsleistungen im Verwaltungsinteresse“ nicht gegeben habe, zeugt nicht von Sachkompetenz, sie erscheint einfach formalistisch und ist absurd.‟ (Email vom 13.3.2017 an Verf.)
c) Dr. Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit
„Das zentrale Dokument in diesem Kontext ist die Liste des Gesundheitsamtes Berlin-Wilmersdorf vom 30. November 1942, die an das Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin geschickt wurde. Die erste Spalte bezeichnet eindeutig die Profiteure und die Verantwortlichen für die in der zweiten Spalte aufgelisteten Lager: Ob es die Organisation Todt ist, die Reichsbahndirektion, verschiedene Betriebe oder eben die Bezirksverwaltung Wilmersdorf für das Lager Wilhelmsaue 40. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum dies in Frage gestellt wird. Das ist ein offizielles zeitgenössisches Dokument. Warum sollte das bezirkliche Gesundheitsamt hier eine falsche Angabe an das Berliner Hauptgesundheitsamt übermitteln? Die Debatte um Hausnummern, die sich immer mal ändern können, finde ich sehr irritierend – zumal es die Adresse Wilhelmsaue 39/40 in der Vergangenheit durchaus gegeben hat.
Das andere angeführte Argument (Stellungnahme Hr. Knobloch, Mai 2017), dass der Zwangsarbeitseinsatz zentral geregelt und organisiert war und dass die Bezirksämter nicht eigenständig über den Arbeitseinsatz ziviler Zwangsarbeiter bestimmen konnten, ist nicht stichhaltig. Wer die Geschichte des Nationalsozialismus intensiv studiert hat, stößt auf zahlreiche Fälle, in denen die mittlere und untere Ebene anders agiert hat als die zentralen Verwaltungen, Ministerien und Behörden. Anders ausgedrückt: Was zentral geregelt werden sollte, ist nicht immer so bis in die untersten Verwaltungsebenen hinein umgesetzt worden.
In diesem Fall ist es ganz klar: Das Schreiben des damaligen Bezirksbürgermeisters, Dr. Thümer, vom 30. April 1944 an alle Dienststellenleiter des Bezirks Wilmersdorf belegt eindeutig, dass einzelne Dienststellen des Bezirks eigenmächtig agiert haben, um sich Zwangsarbeiter zu sichern. Dieses Dokument belegt außerdem, dass der Bezirksbürgermeister selbst eingreift, um dies zu unterbinden. Er verweist dabei nicht an höhere Stellen, sondern stellt klar, dass er selbst über den Arbeitseinsatz entscheidet. Er erteilt sogar dem Lagerleiter die Weisung, dementsprechend die Zwangsarbeiter einzusetzen.
Die Verantwortung des Bezirks für den Zwangsarbeitseinsatz im Bezirk ist damit klar dokumentiert.‟ (Schreiben vom 16.5.2017 an Bezirksbürgermeister Naumann) (6)
4. Heutiger Stand
Die drei wissenschaftlichen Stellungnahmen (nebst verschiedenen Diskussionen) haben die Bedenken nicht ausräumen können; das Schreiben von Frau Dr. Glauning an den Bezirksbürgermeister, das aufgrund einer ausdrücklichen Anfrage des Bezirksamts zustande kam, wurde bisher nicht beantwortet. Dafür sprechen die Vertreter der bezirklichen Gremien seitdem von einem wissenschaftlichen Streit, den sie zu klären sich nicht in der Lage sehen. Folglich hat sich auf dieser Ebene seitdem nichts mehr bewegt; auch an keiner anderen Stelle im Bezirk kam es zu einem Erinnern an die vielen Zwangsarbeiter.
Daher hat die Berliner Geschichtswerkstatt, unterstützt vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit und vom Aktiven Museum, am 9. Dezember 2017 ihrerseits im Rahmen einer Feier eine provisorische Gedenktafel am Haus Wilhelmsaue 40 enthüllt. Ziel ist es, diese provisorische Tafel durch eine offizielle des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf zu ersetzen.
Michael Roeder
(1) Niederkirchnerstraße 8, Berlin-Kreuzberg; Eintritt frei
(2) Zur Nutzung des Grundstücks siehe „Zwangsarbeiterlager des Bezirksamtes in der Wilhelmsaue‟
(3) Zeitgleich, am 27.1.2016, sagte Bundestagspräsident Lammert in der offiziellen Feierstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: „Meine Damen und Herren, ... wir gedenken in diesem Jahr insbesondere auch der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.“
(4) „Ärztliche Versorgung der Ausländerarbeitslager“ [Jahreswechsel 1942/43]: Landesarchiv Berlin C Rep. 375-01-08 Nr. 7818/A 06
(5) „Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf“, Schreiben vom 30.4.1944: Archiv Museum Charlottenburg-Wilmersdorf 3962-1 (Kopie)
(6) Soweit nicht in den Stellungnahmen bereits darauf eingegangen wurde, hier ergänzend:
– zu S. Knobloch/1.: Der Umgang mit der Hausnummer ist wechseln; so gibt es im Landesarchiv Berlin eine Akte (A Rep. 039-08 Nr. 222), die mit „Kindergarten Wilhelmsaue 40“ [1937-1940] beschriftet ist, und die Akte mit Dokumenten aus den Jahren 1952-1964 (B Rep. 209 Nr. 2715) trägt die Aufschrift „Wilhelmsaue 39/40“. Heutzutage hat das Gebäude (ITDZ Berlin) die Hausnummer 40. – 3.: Das Lager in der Wilhelmsaue ist deswegen nicht auf dieser Liste, weil es ein bezirkliches Lager war und keins des GBI.
– zu H. Schmitt-Schmelz: Die Hausnummer 4c gab es nie.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 27. Juni 2019 - 23:31
Tags: gedenken/nationalsozialismus/zwangsarbeit
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