Uhlandstraße 1945 (3) – Dokumente
Im vorigen Artikel dieser Reihe wurde im Abschnitt „Die Gedenktafel“ begründet, warum es notwendig ist, in Ergänzung zur Gedenkstätte am Murellenberg einen weiteren Ort des Gedenkens für ermordete Deserteure im Bezirk zu errichten: Mit dem Beginn der „Schlacht um Berlin“ Mitte April 1945 und der gleichzeitigen Schließung der weit weg vom Alltag gelegenen Hinrichtungsstätte wurde auf Befehl Hitlers das Morden von Kriegsunwilligen mitten in der Stadt und vor aller Augen bis in die ersten Maitage forciert (*). Zeitzeugen haben uns von solchen Greueltaten in Uhlandstraße, Ruhrstraße, Blissestraße, Hermann-Ehlers-Platz, Dominicusstraße berichtet.
Die Gedenkstätte hinter der Waldbühne kann allein schon von ihrer Randlage her das Gedenken an diese Toten nicht übernehmen. Dagegen bietet sich für unseren Bezirk als solch ein innerstädtischer Gedenkort die Uhlandstraße103 an, da die dortige Tat gut dokumentiert ist, obwohl vieles nach fast 70 Jahren unbekannt bleiben muß. An dieser Stelle kann an den 17jährigen und gleichzeitig an all die anderen erinnert werden, die sich dem Krieg entzogen und dafür ihr Leben verloren:
Hier wurde in den letzten Tage des April 1945
ein 17jähriger von Nationalsozialisten aufgehängt.
Zur Erinnerung an ihn und alle anderen,
die sich der Teilnahme am Krieg entziehen wollten
und deshalb ermordet wurden.
(*) Ermordet wurden auch Zivilisten, die sich den Durchhaltebefehlen widersetzten, wie Otto Schieritz, der noch am 2. Mai 1945 - dem Tag der Kapitulation der Wehrmacht in Berlin -, als er eine weiße Fahne hißte, von der SS erschossen wurde.
Dokumente zum Tod eines 17jährigen Ende April 1945 vor dem Haus Uhlandstraße 103 in Wilmersdorf
- „Ebenfalls noch während des Beschusses habe ich an der Kreuzung Berliner Straße Ecke Uhlandstraße tote Soldaten liegen gesehen. An der Ecke gegenüber (vor Uhlandstraße 103) war ein Soldat aufgehängt mit einem Schild um den Hals: «Ich bin zu feige, mein Vaterland zu verteidigen.»“
Helmut Panse, Daß man schließlich
überlebt hat, war auch ein bißchen Glück, in: Bleib übrig. Ende und
Anfang. Berlin-Wilmersdorf im Jahr 1945. Eine Dokumentation, hg. vom
Arbeitskreis Geschichte Wilmersdorf, Berlin (Omnis-V.) 1999, S. 72
(bisher
Stadtbücherei: H 260 Blei; jetzt nur noch in ZLB einsehbar)
Helmut Panse wurde 1930 geboren, war also zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt.
- „Eines Tages hörte ich, wie sich meine Mutter mit Nachbarn unterhielt und immer «Furchtbar, furchtbar» sagte. Ich kam neugierig näher und hörte, daß in der Uhlandstraße ein junger Mann in Uniform an einem Laternenpfahl aufgehängt worden war – Soldat oder Hitlerjunge. Gesehen habe ich ihn nicht. Als meine Mutter das gehört hatte, ging sie mit mir immer einen anderen Weg, damit ich es nicht sehen konnte.“
Ilse V., Erinnerungen, vor allem an das Jahr 1945, aufgezeichnet von
Frank Flechtmann am 3.8.2013
Ilse V. war zu diesem Zeitpunkt - April 1945 -
neun Jahre alt. Sie ergänzte ihren Bericht mündlich: „Er mußte sehr lange dort hängen.“ Der vollständiger Text
der Erinnerungen ist hier zu finden.
- „In der Uhlandstraße 103, Ecke Berliner Straße vor dem jetzigen
Restaurant «La Strada», wurde ein junger Soldat, der sich dem Volkssturm
widersetzt hatte, von der SS an einem Laternenpfahl erhängt. Er trug
ein Schild um den Hals: «Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.»
Man ließ die Leiche einige Tage zur Abschreckung hängen.
Bis in die 50er Jahre legten Wilmersdorfer Antifaschisten am Todestag des Soldaten einen Kranz an dieser Stelle nieder. Die fehlende Gedenktafel wurde bei diesen Feiern durch einen Pappkarton ersetzt, der mit Klebstreifen am Laternenmast angebracht wurde.“
Wilmersdorf. Alltag und Widerstand im Faschismus, hg. von
einer Arbeitsgruppe der Friedensinitiative Wilmersdorf und der VVN
Westberlin - BdA 1983, S. 53 (bisher
Stadtbücherei: H 260 Wilm; jetzt nur noch in ZLB: B 152 Wil
Wilmersdorf)
Das Restaurant heißt jetzt Milano. VVN - BdA = Vereinigung der
Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten
- Nachtrag Oktober 2015
Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, Archiv, Sammlung Hoppe (mit freundlicher Genehmigung des Museums)
- „1982 beauftragte der Berliner Senat den Kulturrat in der Köthener
Straße in Kreuzberg, die inzwischen in fast allen Westberliner Bezirken
sich entwickelnde Erforschung der Jahre um 1933 bis 45 durch Gruppen der
Friedensbewegung zu begleiten und zu unterstützen, damit pünktlich zum
50. Jahrestag der Machtübertragung an die Faschisten, am 30. Januar
1983, die Forschungsergebnisse gedruckt in den Bezirken vorliegen
konnten. Die Kosten dafür übernahm der Senat. Die Broschüre «Wilmersdorf
- Alltag und Widerstand im Faschismus» konnte so realisiert werden.
Die Friedensinitiative Wilmersdorf gründeten wir im Februar 1980. Unsere Arbeit bezog sich nicht nur auf den Kampf gegen die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen, sondern wir verstanden die Aufklärung über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als die zweite Seite der gleichen Medaille. Darum arbeiteten wir eng mit der bezirklichen VVN zusammen. Zu dieser Gruppe gehörte auch Frau Gerda Wiche, gebürtige Wilmersdorferin, seit ihrer frühen Jugend gesellschaftlich und sportlich engagiert. Sie kannte ihren Bezirk wie ihre Westentasche, mehrere Ereignisse in unserer Broschüre gehen auf ihre Erzählungen zurück. Gerda Wiche war eine unserer wichtigen Zeitzeugen.
Mehrfach haben wir während unseres dreißigjährigen Bestehens als Friedensinitiative in unserer Arbeit Bezug auf das Schicksal eines 17jährigen genommen, das auf Seite 53 dieser Broschüre dokumentiert ist und auch auf Frau Wiches Überlieferung zurückgeht.
Für den 30. Januar 1984 beschlossen wir in der Berliner Friedenskoordination, angeregt von Frau Dr. Hilde Schramm, damals Alternative Liste und für diese ab 1989 Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, in allen Westberliner Bezirken auf die Verbrechen der Nationalsozialisten, da wo sie verübt wurden, mit großen Informationstafeln aufmerksam zu machen. Und wir baten gleichzeitig die Bevölkerung, uns ergänzende oder gegebenenfalls neue Hinweise mitzuteilen. In diesem Zusammenhang meldete sich ein Mann, der 1945 ein kleines Schulkind war und sich erinnerte, daß aus seiner Familie die Wäscheleine geholt worden war, mit der die schreckliche Tat vollzogen wurde. Diese Familie wohnte damals in der Berliner Straße 33.
Am 8. Mai 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, organisierten wir eine Gedenkveranstaltung für den ermordeten Jugendlichen unter der Losung «Mütter versteckt Eure Söhne. Ihr habt sie geboren für das Leben und nicht dafür, dass sie auf den Schlachtfeldern der Welt ermordet werden!» Die Veranstaltung fand auf dem Mittelstreifen der Uhlandstraße statt, ungefähr dort, wo vor der veränderten Straßenführung die Laterne gestanden haben könnte, an der er erhängt worden war (Höhe Uhlandstraße103). Neben anderen hielt auch Pfarrer Germer, damals Pfarrer in der Auenkirche, jetzt Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, einen Redebeitrag. Von dieser Veranstaltung gibt es ein Foto:
In Vorbereitung des eben erwähnten 50. Jahrestages der Befreiung hat meiner Erinnerung nach der Vorsitzende der Wilmersdorfer VVN-Gruppe beim Bezirksamt einen Antrag auf Errichtung einer Gedenktafel für diesen jungen Mann gestellt, der abgelehnt wurde, weil durch die [Waffen-]SS-Jacke, die er getragen haben soll, nicht auszuschließen sei, daß er der Waffen-SS angehört haben könnte. Wir haben das damals sehr bedauert und würden uns wünschen, dass die erneuten Bemühungen um diese Erinnerungstafel erfolgreicher sind.“
Auf Gerda Wiche stützen sich auch andere Publikationen wie z.B. Berlin-Wilmersdorf. Die Jahre 1920 bis 1945, hg. von Udo Christoffel/Kunstamt Wilmersdorf, Berlin 1985, S. 522f. (bisher Stadtbücherei: H 260 Wilm; jetzt nur noch Rathaus Schmargendorf und Charlottenburg: B 152 Wil Wilmersdorf).
- „In dieser Situation versuchte ein ca. Siebzehnjähriger zu desertieren. Er versteckte sich in einem Keller in der Berliner Straße. Aus heute nicht mehr klärbaren Gründen trug er eine [Waffen-]SS-Jacke. Ob diese ihm zum Verhängnis wurde, ob jemand Angst bekommen hatte, daß die Russen alle Kellerinsassen zur Rechenschaft ziehen würden und den Jungen daher verriet, oder ob die SS ihn auf der Suche nach Flüchtlingen fand – all das können wir heute nicht mehr ergründen. Wir wissen aber von Augenzeugen, daß der Junge an der Uhland/Ecke Berliner Straße deswegen erhängt wurde.“
Gemeint ist die Situation im April 1945, wenige Tage vor Kriegsende.
MichaelR
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 19. Januar 2014 - 20:12
Tags: gedenken/gedenktafel/kriegsende/nationalsozialismus
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