Sanierungsbetroffener Mieter No 77771
Eva Schindele hatte es in ihrem Buch aus dem Jahr 1980 über das damalige Geschehen im Kiez am Klausenerplatz so beschrieben: >>Bewohner sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als Hindernisse, die die Stadtsanierung stören. Sie erscheinen als passive Wesen, über die man bestimmt, die man verwaltet, mit denen man macht. Man operiert mit ihnen als Zahlen, in Tausenden.<<
So taucht der Mieter (angenommen) als MV 7200/4563/77771 in den Büros der Wohnungsvermieter und Planungsstrategen auf. Da es sich dabei aber nicht nur um eine Zahl, sondern tatsächlich um einen echten Menschen handelt, geben wir ihm noch den Vornamen: Gentrifico. Gentrifico 77771, wie wir ihn ab jetzt nennen werden, wohnt seit etwa 35 Jahren bei uns im Kiez am Klausenerplatz und seit ca. 30 Jahren in einem der jetzt auf dem Sanierungsplan stehenden Häuser.
Gentrifico 77771 kam vor einigen Wochen in die Sprechstunde des Mieterbeirats vom Klausenerplatz. Die nächste Mieterhöhung war eingetroffen, die, wie bei der GEWOBAG üblich (vom Senat vorgegeben!), bis auf den abgerundeten Cent genau an die rechtlich zulässige Kappungsgrenze von 20 Prozent auf die Grundmiete (in drei Jahren) ging. Damit war die Mietübernahmegrenze beim JobCenter überschritten, denn Gentrifico 77771 ist Hartz-IV-Empfänger. Das JobCenter hatte schriftlich zu verstehen gegeben, daß es die neue Miete nicht mehr übernehmen werde. Ein erster Versuch dort und auch bei GEWOBAG eine Lösung zu finden, war erfolglos geblieben. Schwer getroffen und verzweifelt flossen Tränen. Ich sage das hier nicht aus Gefühlsduselei, sondern weil es einmal den Tatsachen entspricht, beileibe kein Einzelfall ist, und ich hiermit auch mal ganz deutlich meine Verachtung für das Gebaren von verkommener strotzverlogener Politik, die auch noch das Wort "Sozial" in der Bezeichnung führt, ausdrücken möchte. Der Mieterbeirat unternahm eine Vermittlung direkt mit dem Mieter im Büro der GEWOBAG. Dabei wurde eine Lösung seitens der GEWOBAG und anschließend auch des Job-Centers gefunden und der Mieter konnte (vorerst) in seiner Wohnung bleiben. Das sei hier ausdrücklich lobend erwähnt.
Wir werden nun hier den Weg des sanierungsbetroffenen Mieters Gentrifico 77771 stetig verfolgen. Wir werden exemplarisch an diesem konkreten Fall berichten, wie es ihm während der kommenden Sanierung ergeht, was ihm dabei alles widerfährt, welche Folgen bei seiner Miete entstehen und letztendlich, ob er anschließend in der Wohnung bleiben kann - also, ob die Politik, wie sie immer verspricht, für sozialverträgliche und bezahlbare Mieten sorgen wird, damit alle Mieter in ihren Wohnungen (oder zumindest im Kiez) bleiben können.
PS
Wir werden nebenbei auch über andere Beispiele berichten, sofern sie uns mitgeteilt werden. Das ist auch nicht allein auf Hartz-IV-, Sozialhilfe-, Grundsicherungs-Empfänger, beschränkt, sondern betrifft alle Menschen mit kleinerem Einkommen - wie auch alle, die sonstwie unter der Sanierung leiden sollten. Wer noch bereit ist, als Sanierungsbetroffener Mieter XYZ 12345 uns von seinem künftigen Sanierungs-Erleben fortlaufend zu berichten, möge sich bei uns melden.
- Kiez, Menschen im Kiez - 19. Juli 2011 - 00:04
Tags: charlottenburg/gentrifizierung/kiez/klausenerplatz/modersisierung/sanierung/ökokiez
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Ein Arbeiten in Anonymität wird nicht viel nutzen. Die betroffenen Mieter müssten sich schon in aller Öffentlichkeit und dann auch noch möglichst lautstark zu Wort melden – so war das bei der Sanierung in den 80er ja auch.