Anmerkungen zur Zwangsarbeit in Charlottenburg - Wilmersdorf
„[…] Müde sinkt mein Kopf auf den Tisch. Und da kriecht ein Bild heran. Da sehe ich dich, armer, zerlumpter kleiner Junge aus dem weiten Rußland, wie du durch die Straßen Charlottenburgs ziehst. Mit dir ein Zug Frauen und Mädchen. Du und die Frauen in Reih und Glied, auf der Straße ohne Schuhe oder sonst eine Bekleidung an den Füßen. Auf dem Bürgersteig durftet ihr nicht gehen. Vielleicht war auch deine Mutter gar nicht dabei, vielleicht hattest du deine verloren, zwischen diesen Frauen und Mädchen auf der Straße, ohne Schuhe und Strümpfe, an diesem kalten Novembertag in Charlottenburg. Du kleiner Junge, in Lumpen gehüllt, hattest Hunger, deine Augen suchten in der Gosse nach irgend etwas zum Essen. Die Frauen aber, die nicht auf der Straße gingen, die auf dem Bürgersteig gehen durften, die Frauen Charlottenburgs, die Mütter Charlottenburgs, nahmen keine Notiz von dir, kleiner Junge, oder von den Frauen und Mädchen, unter denen vielleicht mit wehem Herzen deine Mutter war. Du wurdest am frühen morgen mit zur Fabrik getrieben, du kamst abends spät wieder heim ins Massenquartier. Du hattest keine Spielkameraden, du hattest Hunger; die Wassersuppen machten dich nicht satt. …
Erschreckt hebe ich den Kopf. Wann war das? 1943? 1944? Wo war das?“
schrieb ein Mitarbeiter der Abteilung für Sozialwesen des Magistrats am 16. Juni 1945, rückblickend auf Erlebtes.1 Es ist eines der ersten bekannten Zeugnisse, welches von Zwangsarbeit in Charlottenburg berichtet.
Gehörte dieser Junge zu den jüngeren oder älteren Kindern, die unter Verletzung von Arbeitsschutzbestimmungen auch zu Arbeiten in Fabriken und in Lagern herangezogen wurden? Wir wissen es nicht, so wie wir die Schicksale jener Menschen, welche in unserem heutigen Stadtbezirk zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, leider nicht kennen.
Wir wissen nach jetzt erfolgter Sichtung eines kleinen Teils der Unterlagen im Landesarchiv Berlin dass mindestens 90 Lager in Charlottenburg und mindestens 14 Lager in Wilmersdorf bestanden. Aber dies sind zumeist Bestandsaufnahmen per Stichtag. In Einzelnachweisen lesen wir: „Lager für 100 Russinnen durch Umbau“ oder „Gemeinschaftslager für 1500 Mann mit 11 Mannschaftsbaracken [...]“ 2 Gesamtnachweise wurden bis heute nicht erstellt, sind wohl auch mittlerweile nicht mehr vollständig erfassbar. Anzumerken bleibt, dass die Forschung seit damals weitergeführt wurde, allgemein und objektbezogen, und zur Zeit schon 3000 Lager in Berlin nachweisbar sind. Es ist daher auch durchaus möglich und wahrscheinlich, dass die Anzahl der Fremd- und Arbeitslager in Charlottenburg und Wilmersdorf weit höher liegt, als wir bisher wissen. Doch Splitter können noch weiter zusammengetragen werden.
Es gab große Lager, so am Areal der Straße 87, dem eigentlichen Vorzeigebaugebiet der Nazis, welche hier 1939 mit der Errichtung der Siedlung Charlottenburg Nord, mit einer großen Halle der Volksgemeinschaft, einem 20geschossigen Hochhaus der Partei und Aufmarschplatz (800 x 120 m) begannen. 3 Von 5000 geplanten Lagerplätzen sprechen die Unterlagen, auch wenn wohl nicht mehr alle realisiert wurden.
Es gab kleine Lager, so z.B. in den zahlreichen Tanzlokalen entlang der Berliner Straße (heute: Otto-Suhr-Allee). Viele Einrichtungen wurden anscheinend auch temporär genutzt, so beispielsweise das Ledigenheim in der Danckelmannstraße oder das städtische Asyl in der Sophie Charlottenstraße.
Wir kennen Bauakten von Lagern in unserem Stadtbezirk mit Lagernummern, sauber gezeichneten Lageplänen und genauer Quadratmeterzahl, welche als Berechnungsgrundlage der Bezirksämter für die Verpachtung dieser Grundstücke bis zum Endsieg dienten. Das Bezirksamt Charlottenburg verhandelte über Preise nicht, man teilte sie den „interessierten Firmen, Behörden und Einrichtungen“ unter dem Hinweis, dass Siemens ja auch diese Pachtsumme bezahle, einfach mit. Und es wurde gezahlt. Wir wissen, dass soundso viele Plätze geplant waren und können uns daraus eine Zahl von etwa soundsoviel Insassen des betreffenden Lagers errechnen.
Aber reicht das wirklich? Viele Lager waren überfüllt. Wie stark? Wie hoch war die Fluktation in diesen Lagern?
Viele Zwangsarbeiter sind unter den unmenschlichen Bedingungen verstorben oder bei den Bombenangriffen ums Leben gekommen. Wie viele?
„Charlottenburg: Berlinerstr. 53, French women, 50 deaths at an air-raid on 22.11. 44 (death certificates), Hospital for civilian workers (death certificates), Koenigsdamm 7, Goslaerstr. 20. [...]“
wird 1949 im Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories. Sept. 1st, 1939 – May 8th, 1945. angeführt.4
In der gleichen Quelle finden wir aber auch Hinweise auf Nebenstellen des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Halensee „working for DEMAG“ und Wilmersdorf „53 pris. on 2.1. 43 (Sachsenhausen daily strength report)“ 5 Zugleich sind zwei weitere Standorte der SS in Wilmersdorf sowie ein Außenkommando in der Charlottenburger Kastanienallee bekannt. Dort waren Häftlinge dieses KZ eingesetzt, wie man der Dauerausstellung der Gedenkstätte in Sachsenhausen und deren Publikationen entnehmen kann.
Wer weiß denn heute noch, dass der Siemenskonzern ein Zentrales Ausländerkrankenhaus, das „Scheringhaus“ am S-Bahnhof Jungfernheide, seit 1943 mit besonderen Entbindungsanstalten für Polinnen und „Ostarbeiterinnen“ verbunden, betrieb?6 Ist die Errichtung der Entbindungsanstalt mit der Verfügung des Reichsgesundheitsführer vom 11.03. 1943: „Bei Ostarbeiterinnen kann die Schwangerschaft unterbrochen werden. RSHA erteilt pauschale Genehmigung zur Abtreibung, wenn der Erzeuger „fremdvölkisch ist“, in einem Zusammenhang zu sehen?7
Dies sind noch immer unbeantwortete Fragen. Für diese Frauen galten nicht die damals üblichen Arbeits- und Mutterschutzbestimmungen. Sie konnten zu körperlicher Schwerstarbeit herangezogen werden.
Im Landesarchiv befinden sich Sterbeurkunden mit der Adresse Zentralkrankenhaus der Siemenslager, ausgestellt vom Standesamt Charlottenburg. Wer hat die Unterlagen der Standesämter daraufhin untersuchen dürfen und auch veröffentlichen können? Auch Bescheinigungen über durchgeführte Bestattungen (wir müssen eigentlich von verscharren sprechen) durch Beerdigungsunternehmen, die zwar die Kosten und den Friedhof benennen, aber die Feldreihe und die Grabnummer in den Formularen oft unausgefüllt ließen, sind bekannt.8 Wie viele? Wer weiß es wirklich?
Viele Firmen hielten sich in Charlottenburg ihre Arbeitslager, man nannte sie aber natürlich nicht „Zwangsarbeiterlager“, es war eben Arbeiterlager im „Ausländereinsatz“.9 Wie soll man das Schreiben des kleinen Bauunternehmers in Wilmersdorf bewerten, welcher zur Erfüllung seines „kriegswichtigen“ Bauprojekts Arbeitskräfte anforderte und wenn aber keine deutschen Kräfte zur Verfügung stehen, dann können es ja auch Italiener sein? Wie bewerten wir die anfangs freiwilligen Vertragsarbeiter, jene Arbeitskräfte u.a. aus Frankreich, Belgien und Holland, die zu scheinbar „besseren Bedingungen“ tätig waren?
Auch die Stadt Berlin und ihre Wirtschaftsunternehmungen betrieben eigene Fremd- und Zwangsarbeiter-Lager um die kommunale Daseinsfürsorge auf einem minimalen Stand aufrecht zu erhalten. Ob es die „städtischen Ausländerlager für Arbeitsleistungen im Verwaltungsinteresse“ waren, bedarf weiterer Klärung.
Selbst die Luisenkirch-Gemeinde unterhielt gemeinsam mit anderen Kirchgemeinden ein eigenes Zwangsarbeiterlager.
Am 01.08. 1943 waren in Charlottenburg 16.018 und in Wilmersdorf 11.694 ausländische Zivilbeschäftigte registriert, wie der mit „Streng vertraulich!“ und „Nur für den Dienstgebrauch!“ versehenen Beilage zu den Kriegs-Mitteilungen des Statistischen Amts der Reichshauptstadt zu entnehmen ist.10 Man liest im gleichen Dokument:
„Die seit Mitte 1941 zu verzeichnende Erhöhung der fortgeschriebenen Einwohnerzahl der Reichshauptstadt ist auf den wachsenden Einsatz ausländischer Arbeitskräfte zurückzuführen. Wie in der Beilage […] nachgewiesen wurde, hat sich die Zahl der Ausländer in Berlin in den Jahren 1940 bis 1942 um 264 000 erhöht. Hierzu kommt ein weiterer Zugang um 359 000 im 1. Halbjahr 1943 und um rd. 4 000 im Juli 1943, so dass sich seit Anfang 1940 ein Gesamtzugang von 327 000 Ausländern ergibt, bei denen es sich so gut wie ausschliesslich um ausländische Zivilarbeiter und -angestellte handeln dürfe.“ 11
Nur eine von vielen Statistiken, die es noch auszuwerten gilt.
Gar nicht angesprochen ist hierbei der Zwangseinsatz der damals noch in unserem Stadtbezirk lebenden jüdischen Bevölkerung vor ihrer Deportation in die Gaskammern und Todeslager zwischen 1938 und 1945 und der Einsatz von Kriegsgefangenen12, überwiegend gegen jede Konvention.
Wie bewerten wir die Lager der Generalbau-Inspektion, der Organisation Todt und des Reichsarbeitsdienstes, welche von einigen Autoren auch als Zwangsarbeiterlager besonderer Art bezeichnet werden?
Polen, Russen, Tschechen, Franzosen, Holländer, Serben, viele Nationalitäten werden in den Dokumenten der verschiedenen Lager genannt. Wir wissen kaum, ob es Männer, Frauen oder Kinder waren. Alle unsere bisherigen Kenntnisse beruhen auf Bruchstücken von Informationen aus Akten und Erarbeitungen, die sich zu einem scheinbar erklärbaren Bild abrunden lassen. Doch das Bild stimmt so nicht, ist und bleibt vielleicht für immer unvollständig.
Erforschen wir ihre und auch unsere gemeinsame Geschichte und geben ihnen wenigstens das, was ihnen auch in Charlottenburg und Wilmersdorf genommen wurde, wieder zurück. Ihren Namen und achten so ihre Würde. Nicht nur dem am Anfang erwähnten kleinen Jungen.
„Eines der dunkelsten und traurigsten, und auch gleichzeitig schaurigsten Kapitel der deutschen Geschichte in der Nazi-Ära ist die Beteiligung deutscher Industriefirmen am Menschenhandel und an der Sklavenarbeit.“
Jehuda L. Wallach13
Scheinbar lässt sich dies an Hand der vorhandenen „umfangreichen“ Literatur zum Thema Zwangsarbeit und Zwangsarbeiterlager im Stadtbezirk leicht nachweisen. Aber der Schein trügt. Es gibt nur einige Ist-Aufnahmen. Das Thema setzt weit früher ein.
Bei Zwangsarbeit sprechen wir von unfreier Arbeit, die in Deutschland gleich nach Beginn der faschistischen Diktatur 1933 einsetzte und die Dietrich Eichholtz wie folgt beschreibt:
„Die ersten, die in dieses System gepreßt wurden, waren die deutschen Arbeiter. 1933/34, als von einem konkreten und konsistenten Programm der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung nur erste Umrisse vorhanden waren, verloren sie mit der Ausschaltung der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften und mit der Niederhaltung aller progressiven und liberalen Kräfte bereits ihre politischen und sozialen Errungenschaften.“14
Die Probleme, welche mit dem Arbeitsmarkt im nationalsozialistischen Deutschland im Rahmen der Kriegsvorbereitung verbunden waren, werden z.B. im Deutschland-Bericht der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 12.07. 1939 sichtbar. Über den Arbeitseinsatz wird geschrieben:
„An Stelle des Arbeitsmarktes ist in den letzten Jahren mehr und mehr die staatliche Arbeitslenkung, die Zwangsbewirtschaftung der Arbeitskraft, die Rationierung des Arbeitermangels getreten. Diese staatliche Lenkung erfolgt nach folgenden Gesichtspunkten:
- jeden kriegswirtschaftlich unerwünschten Wechsel des Arbeitsplatzes auszuschließen;
- der Kriegsrüstung die notwendigen Arbeitskräfte zuzulenken;
- möglichst alles verfügbar zu machen, was als Arbeitskraft schon jetzt und im Ernstfall eingesetzt werden kann.“15
Michael Wolffsohn machte 1977 darauf aufmerksam, dass Arbeitsbeschaffung und Rüstung seit 1933 eine unheilvolle Allianz bildeten.16
Helmut Bräutigam zitiert den Berliner Oberbürgermeister und Stadtpräsidenten Lippert mit den Worten, dass die „Arbeitsbeschaffung schon seit langem in eine „Arbeiterbeschaffung“ umgeschlagen ist“. Dies war die Situation, welche spätestens seit August / September 1937 in Berlin bestand.17
Dazu ist anzumerken, dass mit dem Reichs-Arbeitsdienst-Gesetz vom 26.06. 1935 de facto die Grundlagen geschaffen wurden, um organisiertem „Zwangs“-Arbeitseinsatz die gesetzliche Legitimation zu geben.18
Die gesamte Breite von Zwangsrepressalien – darunter auch die Entwicklung der Arbeit und des Arbeitsterrors im faschistischen Deutschland gegen alle, einschließlich der deutschen Arbeiter, zwecks Erreichung der Kriegsziele – stellt Michael Schneider umfassend dar.19
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte sind auch die zahlreichen Lager des RAD und des GBI zu sehen, wobei letztere noch eine besondere Stellung in Berlin und im Rahmen der Verwirklichung der Pläne zur Umgestaltung der Reichshauptstadt „Germania“ bis 1950 einnehmen.
Wir können zwar heute schon sagen, dass es mindestens so und so viele Lager in Charlottenburg und Wilmersdorf gab, Lager mit so und so vielen Plätzen, wir können sagen, so und so viele Menschen waren dort untergebracht, aber es muss davon ausgegangen werden, dass die hier genannten Lager keineswegs alle Lager innerhalb unseres Stadtbezirkes Charlottenburg / Wilmersdorf sind. Vielfach zeichnet sich ab, dass sich weitere Fremd- und Zwangsarbeiter-Lager bei weiterer intensiver Literatur- und Quellenauswertungen unterschiedlichster Art finden werden lassen. So ist z.B. schon bekannt, dass in einem Krankenbericht aus Neukölln als Wohnort ein Frauenlager mit Französinnen angeführt ist, das sich in der Wilmersdorfer Straße befunden haben soll.
Der Oberregierungsrat Letsch, Reichsarbeitsministerium, führte 1941 im Reichsarbeitsblatt zum „Einsatz gewerblicher Arbeitskräfte in Deutschland“20 aus: „Im übrigen ist geschlossene Unterbringung der Unterbringung in Einzelquartieren in jedem Falle vorzuziehen. […] Der Einsatz kleinerer Gruppen und der Einzeleinsatz und die Einzelunterbringung [hier: ausl. Arbeitskräfte] kommen nur in Berufen in Frage, in denen größere Gruppen nicht angesetzt werden können, z.B. bei Bäckern, Fleischern, Schuhmachern usw.“ Durch diese Maßnahmen wurden einerseits dringend benötigte Fachkräfte für die Wehrmacht freigestellt und andererseits die Versorgung der Bevölkerung sichergestellt. Wir wissen kaum, ob ein kleiner Handwerksbetrieb, sei es Schlosserei, Tischlerei oder andere, einen bzw. mehrere Fremdarbeiter nach seiner Antragsstellung vom Arbeitsamt „vermittelt“ bekam, um überhaupt im Rahmen der Kriegswirtschaft seinen „Beitrag zum Endsieg“ bewältigen zu können. In der Literatur lässt sich dies vielfach für andere Orte nachweisen, aber für Charlottenburg und Wilmersdorf wissen wir es noch nicht.
Vielfach wohnten die einzelnen Fremd- oder Zwangsarbeiter direkt bei oder auch in der Werkstatt. Bedingt durch die straffe kriegswirtschaftliche Organisation lag die Vermittlung dieser Arbeiter in den Händen der zuständigen Arbeitsämter – hier in Berlin beim Gau-Arbeitsamt und nicht in den Bezirken. Damit ist der Einsatz von einzelnen oder kleinen Gruppen von Fremd- und Zwangsarbeitern gemeint, welche wahrscheinlich kaum, auch nicht für unseren heutigen Stadtbezirk, erschlossen werden können.
Das massive Anwachsen der Fremd- und Zwangsarbeiter bewirkte, dass nicht alle in Lagern wohnten oder wohnen konnten. Am 15.03. 1943 wird im geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS mitgeteilt, dass von den rd. 250.000 ausländischen Arbeitskräften in Berlin rd. 120.000 in Privatquartieren untergebracht waren.21 Wie war die konkrete Charlottenburger und Wilmersdorfer Situation in dieser Frage? Wir wissen es noch nicht.
Wie bewerten wir die damaligen Verbündeten, deren Staatsbürger von ihnen selbst für Arbeit in Deutschland beworben wurden und dabei sei nicht nur an die tausenden italienischen Arbeiter gedacht, denn wer kennt die Schicksale jener Menschen des damaligen „Unabhängigen Staates Kroatien“, die gar nicht so frei wie die Propaganda es darstellte nach Deutschland und auch nach Berlin kamen?22 Es ist zu beachten, dass man heute nicht von jugoslawischen Zwangsarbeitern in Berlin im Allgemeinen sprechen kann. Die „Weser“ Flugzeugbau G.m.b.H. mit ihrem Lager in Schmargendorf mit 1800 Fremd- und Zwangsarbeitern unterschied, und das nicht als einzige deutsche Firma, ganz deutlich beispielsweise in ihren Statistiken vom 28.04. 1942 zum „Einsatz Ausländischer Arbeitskräfte“ zwischen „freien“ Zivilausländern, wozu neben den Dänen, Franzosen, Italienern, Belgiern auch die Kroaten gezählt und „unfreien“ Zivilausländern, zu denen neben Russen, Polen und Juden die Serben gerechnet wurden.23
Im Reichsarbeitsblatt ist zum Verhältnis zwischen Kroaten und Serben angeführt:
„Nach Mitteilung des Auswärtigen Amtes hat die Kroatische Gesandtschaft den Wunsch zum Ausdruck gebracht, die im Reich beschäftigten serbischen Arbeiter aus Serbien nicht zusammen mit kroatischen Arbeitern zu beschäftigen.“24
Zugleich „möge wenigsten dafür gesorgt werden, daß solche serbischen Arbeiter nicht zusammen mit kroatischen Arbeitern in der gleichen Baracke untergebracht werden.“
Die erste Sichtung von Listen ergab, dass auch Charlottenburger Firmen in anderen Berliner Stadtbezirken ihre Zwangsarbeiterlager unterhielten, so z.B. die Firma Ern & Küchen im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee 118, wo 22 Ukrainer (Volksdeutsche) tätig waren.25
Kaum im öffentlichen Bewusstsein ist auch der Einsatz von Zwangsarbeiterinnen in vielen Haushalten. Besonders im vornehmen Westen Berlins, als dessen Teil sich Charlottenburg schon immer gern bezeichnete, gab es durch polnische, ukrainische, russische oder weißrussische Mädchen sozusagen „Zwangsarbeit im Kinderzimmer“26 und / oder in den Haushalten.
Das war lukrativ, denn:
„es komme hinzu, daß den Ostarbeiterinnen kein Urlaub gewährt zu werden brauche, sondern bei Bewährung wöchentlich nur 3 Stunden Freizeit. Den Ostarbeiterinnen könne auch jede Arbeit aufgebürdet werden, selbst wenn sie noch so schmutzig und schwer sei.“27
„Ostarbeiter“ so beschreibt die Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30.06. 1942, „sind diejenigen Arbeitskräfte nichtdeutscher Volkszugehörigkeit, die im Reichskommissariat Ukraine, im Generalkommissariat Weißruthenien oder in Gebieten, die östlich an diese Gebiete und an die früheren Freistaaten Lettland und Estland angrenzen, erfaßt und nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht in das Deutsche Reich einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren gebracht und hier eingesetzt werden.“28
Wenn wir heute von Zwangsarbeit und Zwangsarbeiterlagern sprechen, so dürfen wir außerdem den organisierten „Arbeitszwang“ gegen die jüdischen Bürger nicht außer Acht lassen, die vielfach noch in sogenannten „Judenhäusern“ oder „Judenwohnungen“ bis zu ihrer Deportation und Ermordung zusammengepfercht wohnten. Diese massive Zwangsarbeit fand auch in unserem Bezirk, schon allein durch den hohen Anteil der jüdischen Bevölkerung bedingt, statt. Vielfach wurden jüdische Bürger auf entehrende Weise öffentlich zur Schau gestellt, so z.B. bei der Wilmersdorfer Straßenreinigung 1940.
„Zur teilweisen Deckung des Ausfalls [Einberufungen zur Wehrmacht] sind daher seit dem 15. Juli 20 Juden in vier besonderen Kolonnen zu je 5 Mann eingesetzt. Diese werden von den anderen Arbeitern vollkommen getrennt gehalten und von besonderen Vorarbeitern betreut. […] Der Bezirksbürgermeister führt hierzu ergänzend aus […] daß auf Absonderung der Juden von den deutschen Arbeitern größter Wert gelegt wird.“29
Hier sei kurz an Emil Hopp, den „Vorarbeiter“ einer dieser Judenkolonne erinnert, der sich nicht an die „Dienstvorschrift“ hielt und seinen Juden so gut es ging half.30 Selbstverständlich galten Juden „ohne Rücksicht auf die Dauer ihres Arbeitsverhältnisses als vorübergehend beschäftigte Kräfte“, für die tarifmäßige Zusatzleistungen wie Bezahlung der Wochenfeiertage, Kinderzuschläge, Krankenbezüge etc. „keine Anwendung“ fanden.31 Die „tarifliche Einstufung der Juden“ lag bereits weit unter dem allgemeinen Lohnsatz und verwundert wohl keinen wirklich. Über die Arbeit der Berliner Straßenreinigung in der Zeit des Nationalsozialismus, die von einer „Zentrale[n] Straßenreinigungsverwaltung“ geführt wurde, liegt eine kaum bekannte Erarbeitung von Karl-Heinz Hofmeister-Lemke vor.32
Ein besonders dunkles Kapitel betrifft die Zwangsarbeit jüdischer Bürger im Scheringwerk Charlottenburg / Tegeler Weg 31. Dazu das Schicksal Siegmund Heymanns, wohnhaft am 07.09. 1942 in Wilmersdorf, Konstanzer Str. 3. Er musste, wie viele seiner Leidensgenossen aus Charlottenburg und Wilmersdorf, im Scheringwerk Adlershof arbeiten. Seine Arbeitsbescheinigung „Darf nur bei Abtransport vorgelegt und nicht von Heymann geöffnet werden“33 lässt den Schluss zu, dass Schering von den Deportationen der jüdischen Bürger bereits im Vorfeld wusste, da die Firma nicht nur in diesem Fall mitteilte: „Solange nicht die zugesagten, aber noch nicht zugewiesenen Ersatzkräfte zur Verfügung stehen, würde eine Wegnahme des Heymann die Erfüllung des Lieferprogramms, zu der Schering verpflichtet ist, unmöglich machen, beziehungsweise empfindlich stören und verzögern.“ Der Ersatz für Siegmund Heymann muss bald da gewesen sein, denn er wurde mit dem 75. Altentransport am 20.11. 1942 nach Theresienstadt deportiert und gilt als verschollen. Die Firma Schering schrieb am 19.11. 1942 an Heymann: „Sie sind seit dem 16.11. 1942 Ihrer Arbeitsstelle ohne Entschuldigung ferngeblieben. Wir fordern sie auf, die Arbeit sofort wieder aufzunehmen.“34 Am 19.12. 1942 wurde Heymann von Schering entlassen, angeführter Entlassungsgrund: „Evakuiert“35 Der restliche nicht mehr ausgezahlte Lohn wurde von der Gestapo im „Reichsinteresse“ eingezogen.
Auch diese Form der Zwangsarbeit, angesichts des hohen Anteils der jüdischen Bevölkerung in unserem heutigen Stadtbezirk gewiss tausendfach vorhanden, gilt es zwingend zu berücksichtigen.
Wer ersetzte die deportierten jüdischen Arbeitskräfte?
Der Verwaltungsbezirk Wilmersdorf teilte z.B. am 24.06. 1944 dem Hauptplanungsamt mit, dass bei dem Luftangriff am 06.09. 194336 allein in Charlottenburg 122 Ostarbeiter getötet worden sind. Sie wurden „gemeinsam in einem Grab in Güterfelde beigesetzt.“37
Auch ihre „Beerdigung“ war selbstverständlich strikt geregelt.
In den „Maßnahmen bei Todesfällen ausländischer Arbeitskräfte; hier zivile Arbeitskräfte aus den besetzten Ostgebieten“ vom 13.05. 194238 wird ausgeführt:
„III. 2. Die Beerdigung der im Reichsgebiet Verstorbenen dieses Personenkreises hat in einfachster Form unter Vermeidung aller nicht unbedingt erforderlichen Nebenkosten zu erfolgen. Etwaige Wünsche der Friedhofsverwaltung wegen der Grabstellen ist zu entsprechen. Kranzspenden aus Mitteln des Reichsstocks sind unzulässig. Desgleichen ist von der Entsendung eines Beauftragten des Arbeitsamts zur Teilnahme an der Beerdigung abzusehen.“
Muss man sich dann wundern, wenn auf dem Vermerk zur Sterbeurkunde eines 6 Monate alten Kindes zur Staatsangehörigkeit nur „Ostarbeiter-Kind“ angeführt ist und sich die Firma, welche das Zwangsarbeiterlager betrieb, monatelang mit den Behörden herumstritt, wer für die Bezahlung des 95 cm langen Kindersarges für 15 RM zuständig sei?39
Wie viele Opfer unter den Fremd- und Zwangsarbeitern sind uns bis heute noch völlig unbekannt.
Kaum bekannt ist das Schicksal vieler Kinder von Fremd- und Ostarbeitern im allgemeinen und wie war es in unseren Stadtbezirk? „Die Russen sammeln regelrecht alle russische Kinder ein, die in deutschen Haushalten untergebracht waren“, schreibt Maria Gräfin von Maltzan über die Situation in Wilmersdorf 1945.40
Hinter jedem Lager – völlig unabhängig ob RAD, GBI, Arbeitslager, stehen Akten. Akten im Landesarchiv Berlin, im Bundesarchiv Berlin, in anderen Archivstandorten - vielfach verfilmt. Die hier angeführten Daten sind nur erste allgemeine Ausführungen, welche als Wegweiser verstanden werden sollen. Eine inhaltliche Auswertung vieler dieser Akten steht immer noch aus, so dass es zweifelhaft erscheint jetzt schon Gedenktafeln zu fordern.
Einige Beispiele, nach grobem Durchblättern, seien hier exemplarisch und kurz angesprochen:
Am 22.11. 1944 teilte die Zweigniederlassung der Fa. Philipp Holzmann AG, Charlottenburg, Kaiserdamm 47/48 dem Arbeitsamt Berlin – Ausländereinsatz – betreff des Todesfalles des Kindes des Ostarbeiters Pawel Simonow nachfolgendes mit:
„Von Ihrem an unsere Baustelle Pallasstrasse gerichteten Schreiben vom 15. d.M., worin sie um Beteiligung zur Bestreitung der Bestattungskosten von RM 53,50 des verstorbenen Ostarbeiterkindes Nikolas Simonow, geb. 12.2. 44, bitten, haben wir Kenntnis genommen. Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus und in Anbetracht der kurzen Beschäftigungsdauer des Ostarbeiters S. müssen wir die Zahlung eines Zuschusses ablehnen.“41
Allein die Aktenlage zu OSRAM - Zwangsarbeitslagern – darunter auch das Lager Helmholtzstr. 4 / 8 – ist so umfassend, dass es Wochen bedarf, um diese auszuwerten.
Es gibt einen „Abrechnung und Rücklieferschein über Lebensmittelbedarfnachweise für ausl. Zivilarbeiter und -angestellte“ des Osram Werk S., Helmholtzstr. 4 / 8 vom 24.04. 1945.42 Auf dieser Karte ist vermerkt „Zahl der ausländischen oder staatenlosen Gefolgschaftsmitglieder, die volle Lagerverpflegung erhalten 53 / Zahl der insgesamt beschäftigten ausländischen oder staatenloser Gefolgschaftsmitglieder 117“ Wie gehen wir damit um? Ebenso mit der Tatsache, dass am 26.01. 1945 verfügt wurde, dass „ausländische Männer“ zur Fliegerschädenbeseitigung eingesetzt werden. Begründung: „Diese Maßnahme hat den Zweck, ein Herumbummeln der Ausländer zu verhüten“. Das auch der Einsatz von ausländischen Frauen vorgesehen war, geht aus diesem Schreiben ebenfalls hervor.
Spiritus-Aktion 12.03. 1942: Für den zivilen Bedarf waren in Berlin beschränkte Mengen Spirituosen verfügbar. Diese sollten an Gefolgschaftsmitglieder abgegeben werden die „kriegsentscheidend“ tätig waren. Im Merkblatt des OSRAM Werkes lesen wir: „ Ausländer sind bei der Auswahl nicht zu berücksichtigen. Juden bleiben selbstverständlich unberücksichtigt.“
Das SA-Standarten und Stürme zur Beaufsichtigung von Ausländern und deren Lagern eingesetzt wurden, wird aus einem Schreiben der Firma Osram an den Berliner Sturm 25/5 sichtbar, in dem die Firma um Verständnis bat „wenn wir wegen der ausserordentlich dringenden Arbeiten, die zur Zeit erfüllt werden müssen, bis auf weiteres Herrn K. … nicht zu Dienstleistungen bei den Parteidienststellen während der Arbeitszeit zur Verfügung stellen werden.“43
In den Akten zum Siemenskonzern im Landesarchiv wird sichtbar, dass bei Prämienzahlungen an „Gefolgschaftsmitglieder“ 1936 / 1945 auch Prämien an Mitarbeiter angeführt werden, welche für „Zwangsarbeiterlager“ tätig waren.
In den erhaltenen Unterlagen der „Sozialpolitischen Abteilung“ sind zahlreiche Rundschreiben zur „Unfallversorgung“, der „Krankenbetreuung“, sowie Versicherungsfragen für „ausländische Arbeitskräfte“ enthalten.
Die Protokolle des Siemensvorstandes belegen, dass die Führung des Konzerns über die Lage in den firmeneigenen Lagern bestens informiert war. Wie die Leistungen, vor allem sowjetischer Zwangsarbeiter, bei der miserablen Versorgung aussahen, teilte Dr. Adam auf der 28. Sitzung des Aufsichtsrates der Siemens-Planiawerke Aktiengesellschaft am 19.12. 1942 mit. Im Protokoll wurde ausgeführt: „Herr Dr. Adam berichtete sodann ausführlich […] über die Erfahrungen beim Einsatz ausländischer Arbeitskräfte, deren Leistung bei den russischen Männern und Frauen ca. 30 % unter dem Durchschnitt der deutschen Belegschaft liege.“44 Die Kürzung der schon schmalen Kost als Erziehungsmittel war eine von vielen untauglichen Ideen, um das Problem zu lösen.
Die schon erwähnte „Weser“ Flugzeugbau G.m.b.H. Bremen mit Lager in Wilmersdorf merkte zum „Russen-Einsatz“ an:
„[…] Die Ernährung der Russen genügt nach einheitlichen Berichten unserer Werksleitungen, die russische Arbeitskräfte beschäftigen, nicht, um ihre volle Einsatzfähigkeit dauernd zu erhalten oder, falls der Antransport in unterernährten Zustand erfolgt ist, die Einsatzfähigkeit herzustellen.“45
Ein kaum bekanntes Kapitel der Zwangsarbeit in Charlottenburg stellt die Widerstandsbewegung der Zwangsarbeiter dar. So gründete u.a. Robert Havemann mit Freunden die Widerstandsgruppe „Europäische Union“, welche auch Zwangsarbeiter in ihre Arbeit mit einbezog. Wir wissen nicht genau, wie viele Zwangsarbeiter dies mit ihrem Leben bezahlt haben.46
Wie bereits gesagt, dies sind nur einige kleine Aspekte, die sich bei einer groben Ersteinblicknahme in einen ganz kleinen Teil der vorhandenen Akten ergeben haben.
Stefan Knobloch
Stefan Knobloch - Gastautoren, Geschichte, Gesellschaft, Politik - 01. Februar 2016 - 13:30
Tags: charlottenburg/gedenken/gedenktafel/nationalsozialismus/stadtgeschichte/zwangsarbeit
zwei Kommentare
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“das Massenphänomen Zwangsarbeit war für jeden sichtbar”
http://www.bundestag.de/blob/404414/6781..
So der parlamentspräsident Lammert am, 27.1.16 zum “Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“im BT
Nur scheint sich selbiges im Bezirk CW und vor allem im BA noch nicht herumgesprochen zu haben.
Es geht darum,dass endlich im Bezirk- nach über 70.jahren- der zwangsarbeit “gedacht” wird und was wäre “ehrenvoller”, wenn es vom BA ausginge und nicht wieder die verantwortung und die kosten auf dem bürger abgeladen werden.
Zumal die kommunale politik aufs tiefste “verstrickt” war, und nicht nur unternehmer oder andere organisationen als “schuldige” ausgemacht werden können.
Es ist das verdienst von Stefan Knobloch in seinem artikel die vielfalt und größenordnung der zwangsarbeit im bezirk dargelegt zu haben.
Aber es darf nicht dazu führen, dass die “verschleppungspolitik” der parteien, der verwaltung gerechtfertigt wird (nach dem motto “wir wissen noch nicht alles”)und somit letzlich erfolgreich bleibt.