Fünf Jahre Gedenken an NS-Opfer verhindert. Ein starkes Stück organisierter Verantwortungslosigkeit
Nun hat die SPD eine neue Parteispitze. Offenbar erhofft eine Mehrheit der Mitglieder mehr sozialdemokratisches Denken und Handeln. Wird sich das auch bis hinunter auf die Bezirksebene von Charlottenburg-Wilmersdorf auswirken?
Zum sozialdemokratischen Denken und Handeln zähle ich nämlich auch: sich der Geschichte stellen und historische Verantwortung übernehmen. Und natürlich: Mitgefühl mit den Opfern der Geschichte zeigen, besonders denen der eigenen.
Konkret geht es darum, daß nach fünf Jahren immer noch keine offizielle* Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf (und auch in Charlottenburg sowie im ganzen Bezirk) besteht. Die Hauptverantwortlichen dafür sind tonangebende Mitglieder der SPD Charlottenburg-Wilmersdorf.
Es sind dies: Bezirksbürgermeister N., Bezirksstadträtin für Kultur S.-S., Vorsteherin der BVV und Vorsitzende der Gedenktafelkommission H. sowie Bezirksverordnete und kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Dr. T. (nicht zu vergessen: Kulturwissenschaftler K. von der Linkspartei als hilfreicher Zuarbeiter im Archiveinsatz). Im folgenden werden nur ihre wesentlichsten Beiträge erwähnt, soweit sie nach außen bekannt wurden.
1 Seit Ende Januar 2015 waren ihm das Thema Zwangsarbeit und das Lager des Bezirksamtes Wilmersdorf in der Wilhelmsaue 40 bekannt. Zehn Monate später (16.11.2015) schickte mir Herr N. – nach etlichen unbeantworteten Bitten um einen Gesprächstermin – per Email eine Botschaft: „Zunächst ist es mir nochmals wichtig zu unterstreichen, dass es notwendig ist, dass der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf das Thema Zwangsarbeitslager zum Gegenstand seiner Erinnerungskultur und Gedenkarbeit macht. Dies ist überfällig.“ Diese großen Worte schienen ihm die geeignete Einleitung, um sich einem (auf)klärenden Gespräch unter Beteiligung von Frau Dr. Glauning, Leiterin des renommierten Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors, zu entziehen: „Ich bitte um Verständnis, dass [...] eine Erörterung auf meiner Ebene derzeit nicht erfolgen kann.“
2 Sitzung der Gedenktafelkommission am 16.2.2016 unter seiner Teilnahme (nie zuvor oder danach war ein Bürgermeister dort). Er machte dort „das Thema Zwangsarbeitslager zum Gegenstand seiner Gedenkarbeit“ (lfd. Nr. 1) mit der Aussage, seine Amtsvorgänger seien nur „der verlängerte Arm der Gauleitung“ gewesen: Ein Freispruch für seine NS-Vorgänger, um sich als deren Amtsnachfolger persönlich aus jeder historischen Verantwortung für Zwangsarbeit raushalten zu können.
3 16.5.2017: Frau Dr. Glauning schickte Herrn N. aufgund einer offiziellen Anfrage eine Stellungnahme mit der Kernaussage: In der Wilhelmsaue 40 befand sich das Zwangsarbeitslager des Bezirksamtes Wilmersdorf (Auszug). Herr N. antwortete nie.
4 Gespräch mit Frau S.-S. am 13.2.2017 in ihrem Dienstzimmer: Sie gab zu bedenken: „Vielleicht ist die Hausnummer ‚40‘ in der Liste des Wilmersdorfer Gesundheitsamts ein Tippfehler, und es sollte ‚4c‘ heißen.“ Auf meinen Hinweis, daß es nie eine 4c in der Wilhelmsaue gab: „Das war nur ein Scherz.“
5 Sitzung des Kulturausschusses am 13.6.2017: Gerade sollte beschlossen werden, der BVV für ihre Sitzung vom 13.7.2017 die Annahme eines überfraktionellen Antrags (auch SPD) zu empfehlen, womit
„das Bezirksamt beauftragt (wird), eine Gedenktafel an der Wilhelmsaue 40 in Wilmersdorf anzubringen, die an das Zwangsarbeitslager des Bezirksamtes Wilmersdorf sowie alle Zwangsarbeitslager in Wilmersdorf während des Zweiten Weltkriegs erinnert“,
da zog Frau S.-S. im allerletzten Moment einen Brief hervor – ohne Nennung des Verfassers (es war Herr K.): Das Lager des Bezirksamtes sei vielmehr in Nr. 43 bis 46 gewesen. Ein Beleg dafür lag nicht bei, dennoch strich der Ausschuß mit Frau S.-S.‘ Unterstützung Hausnummer 40 aus dem Antrag. Schmunzeln schloß sie den Tagesordnungspunkt mit dem Vorschlag: „Dann stellen wir sie [= die Gedenktafel] halt dazwischen.“ (gemeint: zwischen Nr. 40 und Nr. 43)
6 BVV vom 14.12.2017: Frau S.-S. versprach in Beantwortung einer Mündlichen Anfrage (Nr. 3), „gründliche Nachforschungen“ anzustellen. Anderthalb Jahre später stellte sich heraus, daß sie seit und trotz ihrer Zusage absolut nichts unternommen hatte (siehe BVV vom 13.6.2019, 5. Einwohnerfrage).
Vorsitzende der Gedenktafelkommission H.
7 Im August 2019 empfahl Frau S.-S., „dass die Gedenktafelkommission Rücksprache hält, ob das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit auf dieser Quellengrundlage das Lager Wilhelmsaue 40 in seiner Datenbank führt und damit ein belastbarer Forschungsstand gegebenen ist“ (24. Einwohnerfrage). Frau H. konterkarierte dies, indem sie beim Dokumentationszentrum anfragte, „ob es sich mit dem Lager Wilhelmsaue 40 um eines gehandelt habe, in dem ‚nur‘ Zwangsarbeiter untergebracht waren, die für das Bezirksamt arbeiten mussten“ (aus Frau Dr. Glaunings Antwort).
8 Frau H. erhielt am 12.9.2019 die Antwort von Frau Dr. Glauning und gab sie zwei Monate lang nicht weiter.
9 In ihrer Antwort begründete Frau Dr. Glauning zunächst, warum Frau H.s Frage „in ihrer Engführung leider so nicht zu beantworten“ ist, und kam nach zwei Seiten zum Ergebnis**:
„Wir können also feststellen, dass sich in der Wilhelmsaue 40 ein Zwangsarbeiterlager befand, über das der Bezirk nach eigenem Ermessen verfügte. Dies rechtfertigt unserer Meinung nach eine Benennung des Ortes als Ort der NS-Zwangsarbeit, für den der Bezirk Verantwortung trug. Zu der gleichen Einschätzung kam ich bereits in meinen Brief vom 16. Mai 2017 an den Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann." (lfd. Nr. 3)
In einem Telefonat am Tag vor der Sitzung der Gedenktafelkommission (13.11.2019) versicherte mir Frau H. jedoch, Frau Dr. Glauning habe ihre Anfrage nicht beantworten können; dabei blieb sie auch auf der Sitzung.
Bezirksverordnete Dr. T.
10 Frau Dr. T.s wesentliche Beiträge in den Sitzungen von Gedenktafelkommission und Kulturausschuß bestanden darin, wegen „noch nicht ausreichender Aufklärung“ um Vertagung zu bitten (aus Protokollen), und dabei kündigte sie verschiedentlich von Herrn K. neu entdeckte Dokumente an, die bedauerlicherweise allesamt nie eintrafen.
11 Auf der Sitzung der Gedenktafelkommission vom 14.11.2019 (lfd. Nr. 8) erklärte sie die Stellungnahme von Frau Dr. Glauning für „irrelevant, da sie nicht selbst geforscht habe“ (Presseerklärung der Berliner Geschichtswerkstatt), erklärte also die Leiterin des in der Fachwelt anerkannten Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit für inkompetent.
12 Ihr „Plan B“ – auf der Sitzung der Gedenktafelkommission präsentiert – lautete, eine Gedenktafel an einem anderen Gebäude*** anzubringen. Damit verstieß sie gegen einen (auch von ihr selbst getragenen) Beschluß der BVV (lfd. Nr. 3), denn dieses andere Gebäude liegt weder in der Wilhelmsaue noch beherbergte es das Zwangsarbeiterlager des Bezirksamts Wilmersdorf (Drucksache 0121/5).
SPD Charlottenburg-Wilmersdorf: 5 Jahre Verhindern um jeden Preis
Dieser knappe Überblick der wichtigsten Aktivitäten der Hauptakteure zeigt, wie sie es fünf Jahren lang verstanden, in erprobter Arbeitsteilung und mit verschiedenen in der Politik bewährten Verschleppungsmethoden die Erinnerung an die Zwangsarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf zu verhindern (ebenso in Charlottenburg), wobei man sich auch nicht scheute, angesehene Historiker und Institutionen bei Bedarf zu verunglimpfen.
Den wahre Grund für dieses beschämende Agieren hat man bisher der Öffentlichkeit verborgen. Aber es muß etwas sein, das den Hauptakteuren ungeheuer wichtig ist, so wichtig, daß sie nicht einmal intellektuell davor zurückschrecken, fünf Jahre lang die immer selben Bedenken zu wiederholen – darunter das berühmte Bedenken, es gebe in der Wilhelmsaue keine Hausnummer 40.**** Das ist so, als ob die vier Hauptakteure (und Herr K.) „Bedenken“ hätten, ob es das Rathaus Charlottenburg gibt, denn es firmiert auf der bezirklichen Website unter der Hausnummer „100“, aber in der Flurkarte steht „96/98/100/102“. Und doch finden sie seit Jahr und Tag in ihre Büros und in die Versammlungsräume. – Usw.
Umschwung mit neuer SPD? Vorbilder sind ja genug da!
Wird es nach der Wahl der neuen Parteispitze nun im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf einen Sinneswandel geben? Werden sich die Repräsentanten der lokalen SPD nun der Geschichte stellen – und dazu gehört eben auch, anzuerkennen, daß sogar die NS-Vorgänger von Herrn N. Zwangsarbeiter benutzten? Werden sie nun historische Verantwortung übernehmen und Mitgefühl mit den Opfern der Geschichte des Bezirks zeigen und ihrer in der Wilhelmsaue an der Nummer 40 gedenken (ebenso in Charlottenburg)?
Sicher wird es ihnen nicht leichtfallen, aus ihrer selbstverschuldeten Lage wieder herauszufinden, aber glücklicherweise gibt es genug positive Beispiele, an denen sich die örtliche SPD orientieren könnte. Hier sind einige:
– Am 27.1.2016, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, sagte Bundestagspräsident N. Lammert (CDU) in der offiziellen Feierstunde:
„Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. […] Wir gedenken der Kriegsgefangenen und Deserteure, der ungezählten zivilen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in ganz Europa, und wir gedenken in diesem Jahr insbesondere auch der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.“
– Oder Bundesaußenminister H. Maas (SPD) am 1.9.2019 in Warschau, zwar zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen, aber doch ganz allgemeingültig:
"Ich schäme mich dafür, dass diese Schuld nach dem Krieg viel zu lange verschwiegen wurde.“ (zit. nach Berliner Morgenpost, 2.8.2019)
– Und auch aus dem Schulbereich zwei Vorbilder: die Internetplattform „Lernen mit Interviews“ und ein beispielhaftes Stück Erinnerungskultur: die ganz praktische Tätigkeit Bochumer Schüler zum Gedenken an Zwangsarbeiter.
MichaelR
Wer die Vorgänge der letzten fünf Jahre genauer nachverfolgen will, findet hier die Informationen.
* Eine provisorische Erinnerung gibt es seit dem 9.12.2017.
** Ebenso Prof. Rürupp und Prof. Benz sowie die Berliner Geschichtswerkstatt, die seit 1993 zum Thema Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Berlin und Brandenburg arbeitet.
*** Es handelt sich um die Unterkunft für 1800 Zwangsarbeiter des Rüstungsunternehmens „Weserflug“ in der Wallenbergstraße 13 (damals Hindenburgstraße 63/64). Warum wird eigentlich der heutige Rechtsnachfolger Airbus SE nicht dafür gewonnen, selbst eine Gedenktafel anzubringen? Oder ist es einfacher, der Opfer fremder Verbrechen zu gedenken?
**** Liste der Bedenken und deren Widerlegung hier unter 2. und 3. sowie Fußnote 6.
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 19. Dezember 2019 - 22:51
Tags: gedenken/nationalsozialismus/zwangsarbeit
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