Straßen und Plätze: Neufertstraße / Reithalle
Offenbar hatte man im März 1950 bei der Umbenennung mancher Charlottenburger Straßen insofern eine glückliche Hand, als man ihnen die Namen von Lokalpolitikern (aus der Zeit Charlottenburgs vor der Gründung von Groß-Berlin im Jahr 1920) gab, denen man nachsagen kann, daß sie einerseits den Posten eines Stadtrats als Fachleute erhielten anstatt ihn als wahlsiegende Parteienvertreter zu erbeuten und daß sie daher andererseits als Stadtrat für die Bürger Nützliches getan haben. Einer von ihnen war der Architekt und Stadtbaurat Heinrich Seeling (1852-1932).
Ein anderer Straßennamensgeber war der Lehrer und seit 1899 Charlottenburger Stadtschulrat Hermann Neufert (1858-1935). Zusammen mit dem Kinderarzt Bernhard Bendix (1863-1943) gründete er 1904 die weltweit erste Freiluftschule „Waldschule für kränkliche Kinder“ am Rande des Grunewaldes. Unterricht und sonstige Aktivitäten fanden dort weitestgehend an der frischen Luft statt. Denn Mangel an frischer Luft und Überfluß an kränklichen Kindern waren damals ein Kennzeichen der Mietskasernenviertel von Berlin und Umgebung – also auch des Arbeiterviertels am heutigen Klausenerplatz.
Als nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die Frankreich auferlegten Reparationszahlungen ins neugegründete Deutsche Reich flossen und der Industrialisierung einen kräftigen Anschub gaben, entstand wachsender Bedarf an Wohnraum für die in die Städte ziehenden Fabrikarbeiter. Daher begann kurz nach Kriegende südlich vom damaligen Gardes-du-Corps-Reitplatz die Bebauung der freien Felder. Der große Bauboom fand zwischen 1884 und 1889 statt, und im Jahr der Gründung der Waldschule war der Klausenerplatzkiez dicht bebaut mit meist viergeschossigen Mietshäusern.* So gesehen, war es sehr passend, gerade hier eine Straße nach Neufert zu benennen.
Vorher, seit um 1802, hatte die Straße wegen des Fouragemagazins des Gardes-du-Corps-Regiments Magazinstraße geheißen. Dieses Gebäude war jedoch 1895 abgerissen worden, um Platz für die Reithalle des Offiziers-Corps des Königin-Elisabeth-Garde-Grenadier-Regiments No. 3 zu machen.
Das Gebäude entstand 1896/97 nach einem Entwurf von Amtsmauermeister Ernst Gerhardt (1874-1923) und F.W. Bastian und besteht im Kern aus einer 25 x 16 m großen stützenfreien Halle mit einer Wandhöhe von 6 m und einer Firsthöhe von 9 ½ m. Weitere besondere Merkmale sind das sichtbare Dachtragwerk aus Stahl und fünf über die ganze Breite der Straßenfront verteilte hohe Segmentbogenfenster.
(Foto der Bauzeichnung aus dem Bauarchiv Berlin)
Seit der Auflösung des Garde-Grenadier-Regiments im Jahr 1918 fanden mehrfach Umbauten für anderweitige Nutzung statt. Zunächst zog von März 1923 bis zur Einweihung einer eigenen Kirche (nebenan am Klausenerplatz im Juni 1932) die katholische St.-Kamillus-Kirchengemeinde in die Reithalle; von dieser Zeit zeugt eine Darstellung mit Anker und einem Fisch als Christussymbol auf einer der Giebelwände. Nach einem weiteren Umbau, wieder nach Plänen von F.W. Bastian, bei dem die Decke abgehängt und die Fenster vermauert wurden, kam dort von 1934 bis 1968 ein Kino mit etwa 350 Plätzen unter, dessen Name „Mali“ vermutlich eine Zusammenziehung von Magazin-Lichtspiele war.
Eine dritte Art der Nutzung, verbunden mit weiteren Umbauten, ist seit 1970 die als Supermarkt, zunächst über 40 Jahre durch einen Lebensmitteldiscounter, seit 2013 durch eine Bioladenkette. Bei deren Einzug fand eine denkmalgerechte Sanierung statt, die das ursprüngliche Erscheinungsbild wieder klarer hervortreten läßt.
Bereits seit 1993/4 steht die Reithalle unter Ensembleschutz. Nachdem kürzlich ein Investor das Grundstück gekauft hat, um die Halle abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen, wofür bereits ein Bauantrag gestellt wurde, ist ihr Fortbestehen gefährdet, denn nach Meinung des zuständigen Stadtrates könne der Antrag baurechtlich nicht abgelehnt werden. Somit ist die einzige Möglichkeit des Bestandsschutzes ihre Eintragung als Einzeldenkmal in die Denkmalliste. Die Voraussetzungen dafür sind im Hinblick auf geschichtliche, künstlerische und städtebauliche Bedeutung gegeben: Die ehemalige Reithalle ist eine der wenigen erhaltenen militärischen Zweckbauten dieser Art und damit ein besonderes Zeugnis der vor 100 Jahren mit Ende des Ersten Weltkrieges untergegangenen kaiserlichen Epoche; die Gestaltung der Straßenfassade, die Dachkonstruktion sowie Ausschmückungen aus der Zeit als Kirche geben ihr einen künstlerischen Wert; und schließlich nimmt die Halle nicht nur aufgrund ihres Bautypen inmitten von Wohnhäusern, sondern auch aufgrund ihrer jahrzehntelangen öffentlichen Nutzung eine besondere Stellung in dem Stadtviertel ein.
MichaelR
* Die Tatsache, daß man zu dieser Zeit jedenfalls zur Straße hin ansehnlich baute, führte dazu, daß in der Neufertstraße viele Gebäude unter Denkmalschutz (Ensemble) stehen: Nr. 4-12, 14 und 16 (Objektnummer 09020328; erbaut zwischen 1884 und 1895) sowie Nr. 19/21 und 22-24 (Objektnummer 09020688; erbaut zwischen 1891 und 1897).
MichaelR - Gastautoren, Geschichte - 15. April 2018 - 23:14
Tags: denkmal/kino/kirche/magazin/plätze/reithalle/stadtgeschichte/straßen
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